JOHANNES

Es wird Herbst. Die Blätter erstrahlen in den schönsten Farben, ein bunter Teppich bedeckt den Boden. Kinder streifen durch den kleinen Wald da oben am Hügel und suchen nach Eicheln und Bucheckern. Spät am Nachmittag ist es wieder ruhig geworden im Buchenwald. Johannes, die kleine Waldmaus, ist soeben von seinem Mittagschläfchen erwacht, und sein kleiner Magen knurrt wie ein großer Bär. Nachdem er sich den Schlaf aus den Augen mit seinen kleinen Pfötchen gerieben hat, schlüpft er in seinen orangefarbenen Wollpulli und schlendert los durch die herbstliche Zauberwelt. Es ist sein erster Herbst und er kommt nicht aus dem Staunen heraus. Schon so manches mal ist er über einen Kieselstein gestolpert. Die Welt ist einfach zu schön und zu aufregend, da bleibt keine Zeit auf den Weg zu achten...

Es ist ein schöner Tag, die Sonne blinzelt verstohlen durch das Blätterdach zu Johannes herein und ein frischer Wind erfüllt den Wald mit Rauschen. Neben der alten Eiche am Waldesrand steht ein Holunderstrauch, dessen Beeren in den letzten Tagen reif geworden sind. Als Johannes noch kleiner war spielte er hier immer mit seinen Geschwistern, umgeben von dem herb-würzigen Duft der Hollerblüten.

,,Ja, hier bleibe ich, die Aussicht ist schön und die Jause hängt hier auch von den Ästen!“

Er holt seine rot-grün gestreifte Decke hervor und breitet sie auf dem Laub aus. Zuerst setzt er sich hin, denn er muss ja die Landschaft betrachten, wie man es bei einem Ausflug für gewöhnlich macht. Er schaut und schaut und schaut und kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. Die Wiesen, die sich vor ihm im Tal erstrecken sind voller gelbem Johanniskraut, die Süßgräser sind goldfarben geworden und ihre Ähren biegen sich unter der Last ihrer reifen Früchte.

 Johannes seufzt vor Glück und lächelt zufrieden. Und wie er da so sitzt und staunt macht sein Mäusemagen mit einem leisen Knurren auf sich aufmerksam.

,,Nun habe ich genug Landschaft geguckt, nun wird gegessen.“

Die Holunderbeeren glänzen in der Sonne und sehen sehr appetitlich aus. Johannes muss sich schon auf die Zehenspitzen stellen, um sich ein paar der Beeren pflücken zu können. Und er streckt sich, muss aufpassen, dass ihn der Wind nicht umpustet. Ein Bläuling kommt angeflattert und gesellt sich zum ihm. Er versteht nicht, warum Johannes sich so anstrengen muss.

,,Ist doch ganz einfach!“, sagt der Schmetterling und flattert zu der Holunderdolde, wo er sich auf einer saftigen schwarz-blauen Beere niederlässt. ,,Siehst du? Ist ganz leicht.“ Ruft der Bläuling von oben herab.

Johannes bemüht sich noch mehr und ihm wird ganz warm. Nach mehreren Versuchen sinkt er schwitzend und keuchend auf seine Decke.
,,Ich verstehe das nicht. Warum kannst du das und ich nicht?“ fragt Johannes und kratzt sich grübelnd am Köpfchen.

 Der Bläuling legt den Kopf zur Seite und mustert Johannes.

,,Hm, ich weiß es nicht.“, flüstert der Schmetterling und setzt sich zu Johannes auf die Decke.
Johannes ist traurig und starrt in den Himmel hinein.

,,Siehst du die Wolke da?“

,,Welche?“

,,Die da oben.“

Johannes nickt.

,,Ich finde sie sieht aus wie ein dickes Schaf!“, lacht der Bläuling.

Johannes findet das auch und muss kichern.

,,Oder die da?“, der Schmetterling zeigt mit einem seiner dünnen Beinchen auf eine lange und dünne Wolke am Himmel.

,,Eine Schlange mit einem Knoten drin!“, rufen beide gleichzeitig und wälzen sich am Boden und vor Lachen bleibt ihnen die Luft weg.

Lachen macht hungrig, so greift sich Johannes eine der gepflückten Beeren und beißt genüsslich hinein.

Und so sitzen sie da und betrachten den Himmel und allmählich geht die Sonne unter. Der Himmel färbt sich rot, es wird kühl und der Schmetterling gähnt verstohlen.

,,Ich muss jetzt nach Hause..“, sagt er und flattert mit den Flügeln.

,,Schaaaadeeee!“

,,Tschüß!“ ruft der Bläuling, erhebt sich in die Lüfte und fliegt davon.

,,Tschüß!“, ruft auch Johannes und winkt ihm hinterher.

Er bleibt noch ein bisschen und verspeist die letzte Beere. Die Sonne ist untergegangen. Rosa und himmelblaue Streifen ziehen sich über den Horizont.

Es wird kühl und Johannes zittert ein wenig. Er kuschelt sich in seine Decke und nach einiger Zeit schlummert er ein.

Er träumt davon, dass er mit den Ärmchen flattert und fliegen kann, hoch in den Himmel hinauf. Und wie er da so fliegt, an den Wolken vorbei, erwacht er plötzlich. Ängstlich hat er die Augen aufgerissen und schaut sich um. Der Himmel ist sternenklar, die Nacht erhellt vom Vollmond.

Da! Plötzlich ein Geräusch! Ein Waldkauz hat sich auf den Weg gemacht um zu jagen und sein unheimlicher Ruf schallt durch die Nacht. Johannes packt seine Decke, rollt sie zusammen und packt sie in seinen Beutel. Die Mäuseohren gespitzt macht er sich auf den Weg nach Hause. Als er bei der Föhre angekommen ist, raschelt es im Laub und Johannes erschrickt fürchterlich und bleibt wie erstarrt stehen.

Es raschelt und knistert und schnauft und Johannes hält den Atem an.

In dem Moment in dem er meint, sein kleines Herz würde aufhören zu schlagen, erblickt er Sebastian, den Igel, der seine Behausung ganz in der Nähe hat. Johannes atmet auf und begrüßt Sebastian. Doch ehe der Igel noch hallo sagen kann kommt ein Fuchs aus den Büschen gesprungen. Alles geht blitzschnell: Johannes rennt los, verliert dabei seinen Beutel und versucht sich auf die nächste Eiche zu retten. Er hat schon den Atem des Jägers in seinem Nacken gespürt.

Sebastian bleibt ganz ruhig, und bewegt sich nicht von der Stelle.

,,Lauf WEG!“, ruft Johannes angsterfüllt, doch der Igel tut nichts dergleichen. Nun hat der Fuchs auch ihn erspäht und prescht auf ihn zu. Blitzschnell rollt sich Sebastian ein sodass ihn ein stacheliger Panzer umgibt. Der Fuchs kann nicht mehr rechtzeitig bremsen und rutscht mit der Nase voraus in die Stachelkugel. Ein ohrenbetäubendes Jaulen zerreißt die nächtliche Stille und bevor Johannes begreifen kann, was überhaupt geschehen ist, sieht er nur noch den roten Schopf den Fuchses, der sich geschwind trollt.

,,HaHA!!!“, lacht Sebastian und seine schwarze Nase kommt unter den Stacheln zum Vorschein: ,,Der hat seine Lektion gelernt!“ Er strahlt über das ganze Gesicht und grunzt vor Vergnügen.

,,Wie hast du das gemacht?“ fragt Johannes noch ganz außer Atem.

,,Ist doch ganz einfach!“ strahlt der Igel, rollt sich nochmals ein um Johannes zu zeigen, wie er den Fuchs in die Flucht geschlagen hat.

,,Das kann ich doch auch!“ Gesagt, getan. Auch Johannes rollt sich ein. Doch auf seinem Rücken sind keine Stacheln zu sehen.

Sebastian kommt näher heran um sich das ganze besser ansehen zu können. Doch auch er kann keinen einzigen noch so winzigen Stachel entdecken.

,,Nein.... nein, nichts!“ brummelt er. Johannes steht wieder auf und streicht sich das Laub vom Pulli. Er nickt Sebastian noch einmal zu und trottet mit gesenktem Köpfchen nach Hause.

Es ist noch dunkel als er dort endlich ankommt und sich in sein Bettchen legen kann. Der Tag war so aufregend, es dauert ein wenig bis er endlich einschlafen kann.

Wieder träumt er. In diesem Traum ist er die stärkste Maus im ganzen Buchenwald. Kommt ein hungriger Räuber, vertreibt er ihn mit seinen Stacheln, die doppelt so lang sind wie er selbst und so spitz, dass es einem schon vom Hinsehen weh tut.

Als die ersten Sonnenstrahlen ihn aus dem Schlaf kitzeln, begreift er im ersten Augenblick nicht, dass alles nur ein Traum war und er nur die kleine Waldmaus ist, die nicht fliegen kann und auch keine Stacheln hat.

Seufzend schlendert er zu dem Pfifferling, der neben seinem Zuhause wächst und wäscht sich sein Gesicht und seine Pfötchen im Tauwasser, das sich in dem Pilz über Nacht gesammelt hat.

,,Nun ein schönes Frühstück wäre toll!“ denkt sich der kleine und macht sich auf den Weg zur großen Buche, um dort ein paar Bucheckern zu sammeln. Sein Weg führt vorbei an dem kleinen Weiher, in dem sich viele Frösche tummeln. Sie schwimmen um die Wette und scheinen sehr viel Spaß zu haben. Einer von ihnen, ein Grasfrosch, fordert Johannes auf doch mitzumachen.

,,Es ist ganz einfach!“ quakt er ihm zu.
,,Das kann doch nicht so schwer sein, das kann ich bestimmt!“ denkt sich Johannes und springt mit einem Satz ins Wasser.

Er strampelt und paddelt wie wild, um sich über Wasser zu halten. Plötzlich ist er verschwunden und man hört nur noch ein leises Gluckern und kann Luftbläschen an der Wasseroberfläche sehen, wo soeben noch Johannes‘ Köpfchen zu sehen war. Der Grasfrosch überlegt nicht lange, und verschwindet im Grün des Weihers. Ein paar Sekunden später taucht er schon wieder auf, mit Johannes im Arm, der ganz fürchterlich nach Luft schnappt. Er zieht ihn an Land und setzt sich mit besorgtem Blick neben ihm nieder.

,, Ich kann gar nichts!“ schluchzt Johannes.

Der Frosch schweigt, denn er weiß nicht wie er die kleine Maus trösten könnte. Johannes schüttelt sich um sein Fell ein wenig trocken zu bekommen, wischt sich die Tränen von den Backen und geht ohne ein Wort nach Hause.

Tage später sitzt Johannes auf dem Ast eines Vogelkirschbaumes. Die Blätter treiben im Wind vorbei, die ersten Vögel machen sich auf den Weg Richtung Süden. Er hört in der Ferne das Schnattern der Wildenten. Dicke, flauschige Wolken ziehen vorüber, doch Johannes sieht sie nicht. Er denkt nach. Darüber was er überhaupt ist, wenn er doch nichts kann. Er macht ein sehr ernstes Gesicht, so hat man ihn noch nie gesehen.

Und wie er da so grübelt und immer trauriger wird, ihm erneut dicke Tränen über seine haselnussbraunen Mäusebacken kullern, bemerkt er gar nicht, dass sich seine Freunde unter dem Baum versammelt haben. Der Bläuling, der Igel und der Grasfrosch.

Sie rufen: ,, JOHAAAANNES!!!!“

Dieser wird mit einem Schlag aus seiner Verdrossenheit gerissen und verliert das Gleichgewicht.

Alle, wie sie so da unten stehen, halten den Atem an, kneifen sich vor Schreck die Augen zu und warten auf ein ,,PLUMPS“.

Doch dieses kommt nicht. Ängstlich äugt Sebastian der Igel zwischen seinen Fingern hindurch. Er muss sich die Augen reiben um glauben zu können was er da sieht.

,,Seht mal alle her!“ ruft er voller Freude. Einer nach dem anderen öffnet die Augen und auch sie glauben nicht was sie da sehen.

Johannes, die kleine Waldmaus, hängt, sein Mäuseschwänzchen fest um einen Zweig gewickelt, im Baum.

 

Plötzlich klatschen sie alle und jubeln ihm zu. Der Bläuling flattert zu ihm hinauf um sich das ganze genauer zu betrachten. Johannes zieht sich währenddessen wieder auf den Zweig zurück und setzt sich hin.

Er strahlt über das ganze Gesicht.

,,Wie hast du DAS bloß gemacht?“ fragt der Bläuling fasziniert.

,,Ist doch ganz einfach!“ sagt Johannes stolz.

 

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