"Krankenhausflucht"
7.- 8. August 2002, Aquarell und Blei
7. August 2002, Mittwoch sehr früh am Morgen
Aufstehen um halb vier.
Den Frühschwärmern beim Versammeln im Raucherzimmer zusehen.
Fanta trinken.
Musik hören und dabei über mein Leben in Moll nachdenken.
Meine Ängste in Symbolik verpacken und mit Bleistift auf Papier bannen.
Ab und an jemanden grüßen mit einem aufgesetzten Lächeln, dass nur so langlebig
ist, wie der Empfänger es mit seiner Aufmerksamkeit zulässt.
Immer wieder aufs neue mich in leeren Blicken ins Nichts verlieren.
Nachfühlen -nichts fühlen.
Warten. Frühstück in einer Stunde. Hab ich denn Hunger?
Mein Magen fühlt sich wie ein mäusezerfressener, alter Schuh den keiner mehr
will. Mein Herz auch. Ich fühle mich nicht wie ich soll, ich kann meine Liebe
nicht fühlen. Sie fühlt sich weit weg an, unendlich fern. Ich habe Angst davor.
Ich möchte weinen. Ich kann meine Liebe nicht sehen, nirgends finden. Nebel.
Werd ich sie finden wenn die Sonne wieder scheint? Sie steht vor mir, doch ich
kann sie nicht erkennen. Geht es ihm mittlerweile ähnlich? Es ist nicht das
selbe. Ich sehne mich nach Nähe, aber bekomme sie nicht wie ich sie bräuchte,
nur freundschaftliche Nähe. Kann ich geben? Er scheint so weit weg, es tut so
weh. Oder bin ich nicht da? Dringt keine Berührung, die eigentlich da ist, zu
mir durch? Oder existiert sie nicht? Alles scheint aus den Angeln geraten. Ich
fühle mich allein und irgendwie ist es mir gleichgültig. Es macht mir Angst. Wo
bist du? Wo nur? Ich kann dich nicht finden selbst wenn du da bist, alles ist
anders. Liegt es an mir? Ist es normal? Können wir es ändern? Oder liegt es
einfach am Cortison, das meine Gefühle aufwirbeln lässt...... ....aber... war es
vorher nicht schon so? Hast du dich schon von selbst zurückgezogen nachdem ich
ging?
Ich HASSE diese Gefühle, diesen Zustand, mein ganzes Menschsein. Ich will die
Angst nicht mehr fühlen müssen, die mich nackt und bloßgestellt im Regen
zurücklässt. Bin ich zu kalt um deine Nähe zu fühlen, sie nur für Sekunden
zulassen zu können....
Ich möchte aber kann nicht.
Ich will nicht aber es geschieht mit mir.
Schatten und Sonne brauchen einander und kommen doch nie zusammen.
Kannst du meine Ängste nehmen... sie mit einer Handbewegung wegstreichen und von
mir nehmen... hast du die Antworten?
.....Ich wünschte, es wäre so....
7:45
Frühstück.
Kakao und eine Semmel.
Semmeln sammeln für die Rattenkinners.
8:00
Dritte Infusion, Vene erneut verstopft, neuen Zugang legen.
Knobeln im Ärztezimmer, wer darf bzw. muss, um die Angelegenheit nicht zu
beschönigen.
Wahrscheinlich erneut Unstimmigkeit und Diskussionen, es dauert.
Mein Arm samt Venen nimmt ein heißes Bad mit anschließendem Wärmewickel
-Venenaufwärmübungen mit Mineralwassergymnastik.
9:30
Brachialvisite im Kurzverfahren.
MRT erst morgen, ich könnt heulen.
Und ich Trottel hab vergessen wegen der Versicherungsuntersuchung morgen zu
fragen. SHIT!
11:00
Schwester versucht es rechts, Arzt links -erfolglos, bis mein Heißwasserangebot
angenommen wird.
11:35
Endlich erfolgreich -8 Stiche für drei Infusionen, nette Bilanz.
Gleich Mittagessen, noch immer keine Nachricht was denn nun wegen morgen ist,
ich bin gelinde gesagt mit den Nerven am Ende...
11:45
Putenschnitzel, oder nennen wir es Sohle ohne Salz, mir Reis, Salat, Kompott und
Krautsuppe. Die Infusion knallt so rein, das Essen schmeckte schon davon nicht.
12:00
Nachfragen wegen dem Versicherungsscheiss...
Und gleich zwei junge Pfleger die einen umschwärmen. Termin verschoben, ich
krieg ein neues Schreiben, ich kotz ab und hab beschlossen, nichts mehr von ner'
Besserung zu sagen, damit der neueste Befund nicht so rosig aussieht.
12:20
Neuer Infusionsrekord -man schmeckt es!
8. August 2002,
Donnerstag Morgen 6:45
5:00
Endlich etwas Schlaf abbekommen.'
Rausschleppen in die Besucherhalle, die Beine sind schwer und schmerzen beim
Gehen, mein Magen ein Loch mit gähnender und schmerzender Leere, der Kopf am
Hämmern, was für ein Morgen! Die Luft bleibt mir weg, etwas schweres hockt auf
meinem Brustkorb, anscheinend bequem.
Erstaunte Blicke eines Nachtdienstpflegers als ich vorüberziehe.
Die ersten Raucher kommen aus der Chirurgie gekrochen, bald eine
Barackenansammlung im Fernseh-Rauchzimmer zu meiner Rechten.
Fertig ist kein Ausdruck mehr für diese Bademantel- und Pyjamatruppe.
Wieder Fanta, wieder Musik, wieder Zeichnen und unendliches Nachdenken.
Es regnet, keine Depri, zu leer.
Starren auf bleistiftverschmiertes Papier während die Rettung jemanden
abtransportiert.
Fahle, kranke Gesichter im Neonröhrenschein. Schatten ziehen tiefe Furchen. Mein
Gesicht scheint hingegen fast puppenhaft, die Wirkung des Cortisons.
Cm-dicke Schichten von Fenestil, die Schulter weigert sich das Jucken zu
unterlassen -wundgekratze Haut.
Der Rücken schmerzt, das Bett und das Wetter fordern ihren Tribut.
Noch mal Fenestil; vielleicht könnte es ja dieses mal.. ...ach, quatsch!
Die grauen Wolken sind mir heut Nacht wohl auf den Kopf gefallen, vielleicht
gibt es heute nochmals Kakao, zur Linderung.
Bereits nach 7:00
Bald Frühstück und Warten aufs MRT.
Man fängt an sich mit Nichtigkeiten herumzuschlagen: zuerst Infusion und dann
MRT, oder andersrum? Statement zu den Bildern nach dem Mittagessen oder erst bei
der Abendvisite? Wieder Venenstau? Neu Stechen? Ich kann nicht mehr.... und
dennoch da... Keine Löcher in den Wänden zum Verstecken, nur unendliches Weiß
und Orange. Kein Platz in den Verputzporen für Schmerzen und Sorgen. Die
Steckdosen wollen ebenfalls nichts schlucken.
Die Signalhupe eines Zuges kämpft sich durch die graue Morgensuppe zu uns herein
und wird von den Tapeten gefressen. Ob sie auch meine Schreie verschlingen
würde?
Energisches Quietschen von Krankenhauspersonalschuhen auf dem Flur. Leben kommt
auf.
7:30
Versagen der Augenlider. Schleichende Müdigkeit.
Fragen beantworten: Pippi, Stuhlgang, alles OK? Oder möchten sie etwas
einnehmen?
Es gibt Kakao, das beruhigt etwas. Hoffentlich schön süß, alles andere erscheint
unwichtig.
7:45
Kampf mit dem Gewissen um die zweite Frühstückssemmel. Verloren, Gebäck
verschmäht.
Kurz nach 8:00
Der Tropf tropft, zum Glück. Obwohl sich die Leitung in Zusammenarbeit mit
meiner Vene anfänglich weigern wollte. Keiner sieht es, schnell den Tropfregler
manipuliert, gut wenn man routiniert ist um mitzuhelfen das Desaster zu
verkürzen. Walter steht stramm neben mir und kuscht.
Voller Esprit und Leben blubbert es nur so in mich hinein. Dem Arzt war
sichtlich anzusehen, wie ihn Erleichterung überkam, als es langsam in die Gänge
kam. „NEIN! Bitte nicht noch mal die selbe Tragödie wie gestern!“ war seinen
angstvoll aufgerissenen Augen abzulesen. Ich habe ihn nicht enttäuscht.
Dem Kontrastmittel steht somit nichts mehr im Wege.
Es riecht nach erbrochenem Kakao und die unzähligen Putzkolonnen reichen sich
die Türklinke.
Langeweile kommt auf beim Warten auf die Visite oder dem Schwesterntaxi zum MRT.
Dauerkontrolle des Tropfs aufgrund ständigen Aussetzens. Ich bin müde und
entnervt und hab noch gut 20min abzusitzen.
Nun ist es erst 9:00
Mein Gaumen am Austrocknen, doch ich verbiete mir mich mit Wasser zuzuschütten,
wer weiß wie lange das im MRT dieses mal dauert.
Und dann noch Besuch mit den selben, überflüssigen Fragen wie immer: „ UND? Was
haben die Ärzte gesagt?“. NA WAS sollen sie schon großartig sagen. Schließlich
ist es das selbe Problem weswegen ich immer hier bin, da ändert sich nichts, ich
werde nicht schlagartig geheilt sein oder den totalen Absturz diagnostiziert
bekommen. Ich will meine Schmerzen auch nicht verbal oder anderweitig
preisgeben, nur damit sie wieder in Vergleiche eingebunden werden, die man sich
sparen kann. Ich sehe diese Situation bereits unabwendbar auf mich zutrudeln.
Tonfallentgleisung, was ich eigentlich verhindern möchte. Denn sonst bin ich das
Monster, mit dem man es doch eigentlich nur gut meint. Nonsens!
Immer das selbe Un-Miss-wie auch immer-Verständniss, und ich kann mich jedes Mal
aufs neue darüber aufregen.
9:25
Gut geschätzt, vorletzte Flasche vollendet. '
10:00
Ich hasse Visite, immer diese ungläubigen Blicke -ich Simulant!
Das 5-min-zählen beginnt, Freude über jede geschaffte 5 Minutenmeile.
13:45
Kurzbesuch meiner Mutter mit jede Menge Stories aus und um Henndorf.
15:30
Wackelig aber ganz zurück von fast einer Stunde MRT-Peinigung. Ich hab zwar
nicht getrunken, dennoch kämpften 500ml NaCl 0,9% um ihre Freiheit. Ich wollte
schreien, losschlagen, mich anpinkeln, heulen. Das ganze Gerät vibrierte wie
wild, es fiel mir schwer genau dann nicht zu schlucken wenn ich eigentlich nicht
durfte und nicht ans Klo zu denken. Wie durch ein Wunder hab ich heil und
trocken überlebt. Der „Ich KANN NICHT MEHR ZUSTAND“ war bereits nach ner halben
Stunde bei weitem überschritten.
Haare waschen und sich wieder wohlfühlen.
Ob das Mittagessen noch kommt? Wohl kaum, Abendbrot in einer Stunde.
16:20
Das Zimmer ist leer, Langeweile kommt aus den Ecken gekrochen und wird wohl bis
zum Abend bleiben. Was tun?
Die Traurigkeit und die Tränen über mich kommen lassen und schweigen.
17:10
Abendbrot. Fleisch trotz riesiger FLEISCHLOS-Karte. Ein deprimierender Abend.
Hätte ich das doch gegen mein Mittagessen eingetauscht....
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