VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2007

 

16. April 2007, Montagnachmittag

Ein Hoch auf die Temperatur! Gestern Abend leichte Lähmungsaussetzer des rechten Beines, heute die gesamte rechte Körperhälfte. Beim Laufen Inkontinenz und über Umwege nach Hause rennen, damit mich niemand sieht. Herrlich! Zum Kotzen, wortwörtlich. Fine erbrach sich dreimal auf einen der Flurteppiche. Wie praktisch!! Da lohnt es sich doch gleich die eingesauten Laufsachen zu waschen! Wieder Debatten mit mir selbst: „Hätte Hätte nicht geschissen, dann...!“. Wieder muss ich darauf achten nicht vom Hocker zu fallen, wie schon so oft die letzten Tage. Wie oft bin ich einfach umgefallen? Ich bekam gestern Abend Angst. Das Gefühl in meinem Bein machte mich panisch. Heute sehe ich wieder alles etwas differenzierter. Etwas... Darf ich denn keine Angst haben? Ist es Selbstmitleid wenn ich sie für den Bruchteil meines Lebens auslebe? „Sei artig!“, sagte er nach der Mittagspause und ging. Ich brummte nur in meinen imaginären Bart: „...Ganz sicher nicht!“. Soll ich meine Unterarme aufschlitzen, lügen, um nicht entlarvt zu werden? Soll ich meine Oberarme aufschlitzen, so gekonnt, dass sich die Wunden leicht verbergen lassen? Oder meinen Bauch? Wieder schneit es weiße Blütenblätter, wieder singen die Vögel. Ich will mich nicht mehr im Griff haben, will nicht länger so tun als sei ich in Ordnung. Selbst wenn ich gut gelaunt bin, ich BIN es nicht! Ich fühle mich nicht, ich fühle nichts. Und wenn ich meine Liebe fühlen kann, dann sind es erneut diese Momente in denen ich Angst habe ihn zu verlieren, Angst habe vor seinem Tod. Ich kenne mich nicht mehr und ertrage diese Passivität nicht länger. In meinem Traum sah ich unzählige Bilder. Sie waren von mir, waren düster und unheimlich und zugleich so unendlich ehrlich. Ich muss mich selbst suchen. Und wenn ich mich für eine Sekunde gefunden habe, bin ich mit all dieser geheuchelten Stabilität gescheitert....

 

Stille in mir. Kontinuierlich bis 4 zählen, permanent vor- und zurückwippen. Schnitte auf dem Oberarm. Sie sind ohnehin fett und unansehnlich... Irgendwie verlogen, das Schauspiel perfektioniert. Das gekünstelte Leben in mir abgeschlachtet, kann ich nun der Antriebslosigkeit schweigend gerecht werden. Bluttropfen auf deinem Grab. Ich weiß nicht wer ich bin, weiß nicht was ich fühle. Verreck doch!

Abend

Gemeinsam in Decken gewickelt auf der neuen Terrassenbank. Es ist kühl geworden. Ab und an ein geheucheltes Lachen, und doch sehe ich wieder nur den Tod und versuche diese Tatsache so gut es geht zu überspielen. Kaum bemerke ich wie schön die Welt um mich rum ist, verliert diese den Bezug zur Realität und alles verzerrt sich bis zur Unkenntlichkeit. Die Sonne geht, die Nacht kommt. In mir herrscht immer noch Sprachlosigkeit. Bin müde, möchte nur noch schlafen, mich ausschalten, mich von meiner Umwelt separieren. Warum sitze ich immer noch hier, mime den Spaßvogel, wenn es doch so anstrengend ist? Zu müde für das Leben und zu müde, um zu sterben. Schlafen, einfach nur schlafen.


 

17. April, Dienstagabend

In mir herrscht Chaos. Ein Durcheinander von „Lass es“, „Tu es endlich“, „Sollte ich denn“. Es nervt, es ist anstrengend. Meine Gelenke schreien. Ich weiß nicht mehr, ob ich morgen laufen sollte. Da ist eine Spastik in meinem rechten Bein. Zuerst stellte vor Wochen meine Neurologin diese fest, nun spür ich sie. Und meine Gelenke nehmen mir diesen etwas unsauberen Laufstil sehr übel. Ich weiß nicht, ob es ein Schub wird, ich weiß nicht ob es nur eine Verschlechterung aufgrund der Temperaturen und der FSME-Impfung ist. Ich weiß nichts, weiß nicht, ob ich in meinem Krankenhaus anrufen soll. Es macht Angst, wenn ich mein Bein nachzuschleifen beginne. Es macht Angst, wenn ich etwas in die Hand nehme und es nicht halten kann. Ich stecke voller Angst und die Gedanken springen nur so von einem Thema zum nächsten. Und dann der Kommentar des Mannes auf der Straße als ich nach Hause lief: „Da will aber jemand GANZ schlank werden..“. Ich stand danach tatsächlich vorm Spiegel, drehte und wendete mich und fragte mich, ob ich denn soo fett sei. Es war wohl wieder einer dieser Tage, an denen ich mich eigentlich verletzt hätte. Ein Tag, an dem alles aus dem Ruder läuft. Ich habe es nicht getan. Wer weiß warum. Meine Seele sprach und ich fertigte eine Skizze an, so gut es meine rechte Hand zuließ. Mal sehen, wann oder ob ich es beginne. Warten auch darauf, wie sich mein Zustand weiterentwickelt. Zudem steht mir nun bald die Beantragung der Frührente bevor. Und bei dem Gedanken an all den Stress und Ärger, sehe ich nur zwei Optionen: Mich aufschlitzen und mich schon mal auf einen schönen Schub einstellen. Alles dreht sich, mein Blick ist trüb und meine rechte Körperhälfte scheint doppelt so schwer. Täglich mache ich die Standardtests um eindeutiger sagen zu können, dass es ein Schub ist. Doch mein Gefühl entspricht nicht der Kraft. Und so warte ich weiter.

                                                                     

Nein, es geht mir nicht gut. Aber wahrscheinlich bin ich selbst schuld dran. Schweige weiter, liege niemandem damit in den Ohren, so wie es alle bei mir tun.

 

Die neue Leinwand liegt vor mir, doch es fehlt der Antrieb etwas zu tun. Zudem schwindet die Feinmotorik in der Hand mit Voranschreiten des Abends. Ich gebe es auf, zumindest für heute. Eigentlich denke ich wieder nur an Schlafen. Die Glocken läuten, es ist 8. Die Krähen ziehen zu ihren Schlafbäumen, die Fasane streiten sich um jeden Zentimeter Wiese.


 

18. April, Mittwochvormittag

Der Himmel startet soeben wieder den Versuch dem Boden Regen zukommen zu lassen. Das Kartoffel-Gemüsegratin schmort im Backrohr und mir fallen Tee trinkend erneut die Augen zu. Der Lauf war schön, auch wenn ich anfangs zweifelte ob es denn gut sei. Ich rufe wieder nicht im Krankenhaus an. Mir fehlt die Energie, der Mut und auch die Überzeugung. In einem fort zerlegt sich meine Umwelt in ihre skurril wirkenden Einzelteile. Nichts ist reell, nichts hat Bestand. Bin zu müde um mich zu wehren, verschließe die Augen vor dem Verlust des Realitätsbezugs und warte ab. Die Nacht war lang und anstrengend. Ich konnte nicht schlafen und das Gefühl in meinem Körper war nicht sonderlich Schlaf fördernd. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt, aber mir fehlt die Kraft es zu suchen und zu benennen. Wohl besser so. Keine Verletzung, kein Kampf mit mir selbst. Mein Schädel dröhnt und mir gehen die Worte der Frau auf der Straße durch den Kopf, die uns vorhin denunzierte, wir seien die „einzigen“, die mit ihrem Hund immer an ihrem Gartenzaun und ihrem Hund vorbeigingen. Und das wir uns nicht zu wundern brauchen, dass ihr Hund letztens über den Zaun kam und Freya attackierte. Was für ein Stuss! Gehört die Straße ihnen und ihrem Köter? Sollen wir deshalb auf der falschen Straßenseite gehen? Meine Mutter war den Tränen nah über so viel Ungerechtigkeit, ich lediglich verärgert und in meinem Groll gegen Jäger und Anhang bestärkt.

Nichts erinnert mehr an den Lauf vor gerade mal einer Stunde. Mein Gangbild ist katastrophal, ich torkle und bin dem nächsten Sturz nahe. Die Katzen toben durchs Wohnzimmer und zaghaftes Regenprasseln dringt durch den offenen Terrassentürflügel. Ich hab sogar Probleme aufrecht zu sitzen und das Hüftgelenk tut schmerzend seine Verstimmtheit kund. Doch all das ist egal, es ist so still, so beruhigend und ich will mich ohnehin nicht mehr bewegen.

Spätnachmittag

Das Bild liegt nun in einer Rohfassung in seiner ganzen Größe vor mir. Es ist unheimlich. Ich halte inne, starre es Ewigkeiten an und fühle in mir das Verlangen aufkeimen, mich bluten zu sehen bevor das Bild blutet. Ich scheitere in meinem Vorhaben, nun zum Pinsel zu greifen. Kann die Prozedur nicht zerreißen. Warten, bis die Zeit gekommen ist...

Abend

Immer noch kein Regen. Ich nehme mich selbst wahr, als sei ich nicht existent. Ein seltsames und zugleich Angst einflößendes Gefühl. Mir ist regelrecht schlecht davon. Und ist es doch so beruhigend mich aus dem Geschehen auszuschalten. Mich abschalten; das ist wohl das einzige, wozu ich nun noch in der Lage bin. Wen kümmert es...


 

19. April, Donnerstagmorgen

Abends auf der Couch Angezicke. Nun endlich hatte ich meinen Grund, nach dem ich gesucht hatte. Bevor ich ins Bett ging schlitzte ich meinen Unterleib auf. Dann lagen wir da, jeder auf seiner Bettkante. Kurz nach 23 Uhr preschte ein Hubschrauber direkt über unser Haus und kurz darauf waren zwei Sirenen in der Ferne zu hören. Mit weit aufgerissenen Augen lag ich im Bett, ihm ging es wohl ähnlich. Und wir krabbelten wieder aufeinander zu, doch an wieder einschlafen war nicht zu denken. Unerbittliche Spasmen, ohne Ende. Dann heute morgen wieder dasselbe Theater und zu allem Übel wieder Inkontinenz. Ich bin fix und fertig, was man meinem Gesicht auch ablesen kann. Das Laufen fällt heute aus, das Bild ist in der zweiten Phase und trocknet, bevor ich weiterarbeiten kann. Sollte ich nun doch im Krankenhaus anrufen? Bei dem Gedanken, in zwei Monaten nach Deutschland zu fahren, in diesem Dauerzustand, wird mir schlecht.
Mittag

Ich habe meinen Arm zerschnitten, von oben bis unten fein säuberlich massakriert. Warum? Um einen Grund zu haben, heute beim Psychosozialen Dienst anzutanzen? Hohl, alles ist hohl. Wer hat behauptet, dass ich ein guter Mensch bin? Ich hasse mich. Es ist doch alles einfach nur scheiß egal!
Abend

Das Gespräch war ein langes, verhältnismäßig zumindest. Endergebnis: Zwei Antidepressiva täglich. „Wenn sie meinen, dass das etwas verändert...“. Er hatte mich gefragt, wie meine Suizidvorstellungen konkret aussehen. „Pulsadern aufschneiden...“, obwohl mir noch viel mehr Arten einfallen, wie ich mich endgültig abschießen kann. Ich fühle wieder diese Schwere und bin innerlich am Rotieren. Weiß nicht mehr wohin mit mir und dieser Spannung. Ständig muss ich erschaudern bei so manchem Gedanken, der mit unzähligen seiner „Freunde“ mein inneres Auge passiert. Schwarz, alles an und in mir ist schwarz. Das Bild neben mir bleibt in seinem unfertigen Zustand. Ich bin doch unfähig, ich KANN einfach NICHTS. Und vor allem will ich nichts tun. „Ich weiß nicht was ich will, wahrscheinlich einfach nur in diesem Zustand dahindümpeln bis ich krepiere.“. Sterben...; die Idee war heute bereits aktuell. Dieses Desaster beenden. Die Krämpfe in den Beinen hören einfach nicht auf. Warum sollte ich das Bild nicht einfach leben und mir die Klinge ins Fleisch jagen, bis das Puppengesicht zerschnitten ist und ich in meinem Blut ertrinke? Die Hand auf der Wange verkrampft sich. Warum zerkratze ich meine Visage nicht einfach? Zerlege sie in ihre Einzelteile? Setze das Puzzle neu zusammen und kann mich vielleicht so wieder finden? Ich fühle soviel Schwarz, mir ist nicht mal nach weinen. Alles scheint egal, als gäbe es kein Morgen mehr. Den Abend damit zubringen eine Tablette nach der andren einzuwerfen, bis hin zur Überdosis. Damit diese Spasmen endlich aufhören, damit mein Geist endlich schweigt. Ich kann nicht mehr und werde es doch wieder stillschweigend überleben. Ich hasse es! Ja, Hass ist ein starkes Gefühl. Die Endlösung für mich?


 

20. April, Freitagvormittag

Ich blieb im Bett, sah keinen triftigen Grund mich hoch zu quälen. Dann begleitete ich Fine nach draußen vor die Tür, stand da im morgendlichen Sonnenschein und dachte, dass das alles keinen Sinn macht. Tod, Tod, TOD!!!
Dann raffte ich mich endlich auf, obwohl ich längst wieder verunsichert war, und rief im Krankenhaus an. Ich las den Befund des MRT's vor und meine Ärztin meinte sofort, dass es sich um einen neuen Schub handeln würde. Sofort war eine Stoßtherapie klargemacht, plötzlich ergab wieder alles Sinn, ich hatte einen Sinn bekommen, eine Aufgabe. Alles organisieren, alles klar machen. Und nun ist das schlechte Gewissen, dass ich wieder nicht laufen war, weg. Mein Knie tut weh, was ohnehin keine Voraussetzung für einen guten Morgenlauf gewesen wäre. Und ich merke, wie ich plötzlich in mir zusammensinke, nicht länger stark bin, nicht länger von meiner Verunsicherung getrieben versuche, aufrecht zu stehen. Mich den Umständen und Symptomen hingebe um mir ihrer als Ganzes gewahr werden zu können. Doch, es ist richtig jetzt einzuschreiten.

Die Souvenirs meines entzückenden Nervenzusammenbruchs sind blutunterlaufen und zeichnen sich dunkellila von der weißen Haut ab. Ein wunderschöner Anblick.



21. April, Samstag Vormittag

Wieder live aus dem Krankenhaus. Auch die Station erstrahlt nun in einem ganz neuen Licht. Das „Sterbezimmer“ verzaubert in einen Aufenthaltsraum, noch mehr Lila, oder sollte ich sagen Flieder? Der junge Arzt sieht aus wie ein Freund von uns und ist sehr sympathisch. Zuerst versucht er es an der rechten Hand. Zu meinem Glück macht er dann den Vorschlag in der Ambulanz den zweiten Versuch zu starten, OHNE Zuseher. Auf der Liege Platz genommen, ziehe ich den Ärmel hoch, unter dem Verband lugen dunkelviolette Striche hervor. Er gibt ein „Auweh, was ist denn das?“ von sich und verstummt verdutzt als ich den Verband runterziehe und die ganze zerschnittene Pracht zum Vorschein kommt. Kein Kommentar mehr. Er trifft, ist stolz auf seinen Erfolg, das Kortison läuft anstandslos in meine Vene. Nun sitze ich in oben genanntem Aufenthaltsraum, die Oma am andren Ende des Tisches sieht mich immer wieder an, doch ich hab mich unter meinen Kopfhörern verkrochen und hoffe sie gibt sich mit der Glotze zufrieden. Ich kann den Tod fühlen, denn ich weiß wie es hier vorher aussah. 6 Betten mit sterbenskranken, alten Menschen, das Piepsen von mehreren EKGs, Keuchen, Husten, Röcheln, Verwandte die teils in Schwarz gekleidet ein und aus gingen, teils weinend. Der Raum ist so hell gestaltet und versucht über seine dunkle Vergangenheit hinwegzutäuschen. 20 Minuten läuft es nun schon, meine Geschmacksnerven haben sich bereits verabschiedet.
Der Film gestern Abend hat mich wieder total durcheinander gebracht. Immer wieder war zu sehen, wie sich eine Frau die Pulsadern aufschnitt. Ich erschauderte und dachte nur noch: „Wie einfach und schön zugleich....“. Ich weiß nicht wohin mich die Therapie führen wird. Vor allem die Zeit danach, mit der mir ohnehin bereits innewohnenden Anspannung. Keine Vorfreude auf Laufen, auf Schmerzfreiheit. Immer noch hohl, nur die Aufregung zauberte einen Hauch Leben in mein Gemüt.

Das Kortison liegt gut in der Zeit, ich bin endlich allein. Ich versuche etwas zu fühlen, aber ich kann nicht.

Abend

Es ist relativ still, auch in mir herrscht Schweigen. Ich habe ein paar Stunden auf der neuen Terrassenbank geschlafen, nachdem die Spasmen auf der Couch unerbittlich wurden. Die Sonne schien mir auf den Pelz und jagte wieder etwas Leben in meinen leichenblassen Körper. Ist es das Kortison, das mich förmlich zusammenbrechen lässt? Oder einfach der Umstand der Therapie, der mir ein Freizeichen gibt, mich meiner Schwäche endlich vollends auszuliefern? Letztlich ist es egal und ich verbringe den Abend draußen mit Tee und Sonnenuntergang. Ersteren kann ich nicht mehr schmecken und meine Umwelt nicht fühlen. Sie meinte gestern am Telefon, dass wenn sich nach drei Stoßtherapien erst eine Besserung einstellt, ich noch zwei dranhängen sollte. Doch was nehme ich als Indiz? Welches Symptom ist der entscheidende Faktor, zumal das Kortison die Beschwerden anfangs nur verschlimmert. Die Spasmen?

Was ist nun, was herrscht in mir? Nichts? Bin zu müde um über Verletzung nachzudenken, obwohl mein erster Weg nach dem Aufstehen zum vermeintlichen Versteck führte. Ich fand die neue Klingenpackung nicht und war drauf und dran wahnsinnig zu werden. Letztlich fand ich sie doch, beruhigte mich wieder und konnte so die Krankenhausprozedur entspannt zum 23. Mal antreten.

 


 

22. April, Sonntag 4:45

4 Stunden Schlaf, davor ein komplettes Versagen meines Körpers und meiner Psyche. Stille und unbemerkte Tränen sickerten ins Kopfkissen. Mein Leben scheint verwirkt, bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Und alles bereitet letztlich nur Schmerz und wird zu einer notgedrungenen Verpflichtung, um andren einen Gefallen zu tun und mein schlechtes Gewissen zu stillen. Vielleicht doch 5 Tage Stoßtherapie, obwohl ich nicht mehr daran glaube, dass sich noch etwas ändern wird. Ich dachte daran aufzustehen, mich aufzuschlitzen und dann mit dunklen Farben das Bild zu beenden. Doch ich blieb liegen, Träne um Träne.

Und nun sitze ich hier in meinem kalten, dunklen Zimmer, beide Arme zerschnitten und warte auf das Verstreichen der Stunden. Suizid klingt jetzt wie Erlösung, alles scheint egal, mein Dasein ohne Belang und Halt im Hier und Jetzt. Weglaufen vor mir selbst? Ich werde wieder bleiben, wahrscheinlich weil ich zu feige bin oder meines schlechten Gewissens wegen. Wer weiß das schon. Obwohl alles jetzt im Moment unerträglich erscheint...

9:30

Ich sitze wieder in diesem wundervollen Aufenthaltsraum mit einer jungen Dame an meiner Seite. Ein Ständer, zwei Patienten. Geteiltes Leid ist halbes Leid.  Irgendjemand scheint draußen im Flur soeben zusammengebrochen oder einfach nur umgefallen zu sein. Es tscheppert und klirrt und alles rennt, doch wir bekommen nichts zu sehen. Warten auf meine Infusion und dann darauf, dass der Venflon versagt. Mein Schädel dröhnt und mir ist immer noch übel von der holprigen Fahrt.

9:34

Es läuft, er scheint gestern eine gute und vor allem funktionstüchtige Vene erwischt zu haben. Das Blut sickerte durch den guten Verband und wenn ich nicht aufpasse, kommen die Flecken all zu schnell unterm schwarzen Ärmel zum Vorschein. Einhändig tippt es sich so schwer und ich werde wohl warten müssen, bis ihr Fläschchen leer ist und ich mich auf ihren Platz setzen kann oder Walter einfach etwas näher an mich treten lassen.

Allein. Das Fenster ist offen und mir ist kalt. Schon bin ich nicht mehr allein, aber dafür macht jemand das Fenster zu. Die selbe Omma von gestern und ich ahne Schlimmes. Meine Ahnung geht auch soeben in Realität über, ich glaube, ich flüchte kurz gen Toilette.

Walter will nicht so wie ich will, blockiert im Klo, bleibt zwischen Tür und Angel stecken und beinahe geschieht ein Unglück. Aus dem Spiegel strahlt mich ein rotbäckiges Wesen an, das mir mehr als fremd ist.

Die Putzfrau, die mich schon seit Jahren kennt, fragt mich, ob es mir denn nicht gut ginge, ich würde so traurig aussehen. Kleine Albereien werden durch den langen Raum geworfen. Dann bin ich wieder komplett allein. Menschen kommen und gehen, eine Frau fragte mich, ob ich denn schon fleißig sei. Immer diese Standardfrage. Dann kommt ein Mann hereingeschneit, brilliert kurzfristig als Zappingmeister, um sogleich bei einem Motorradrennen hängen zu bleiben. Igitt! Auch der mitgebrachte Tee schmeckt mit allmählicher Leerung der Infusionsflasche immer weniger. Bald ist es geschafft und ich bin froh, eine sehr gesprächige und sympathische junge Rotkreuzfreiwillige hinten bei mir sitzen zu haben.

 

Gesprächsstoff war schnell gefunden und an Tag Zwei bin ich doch so plapperfreudig. Die Bläschen an der Oberfläche summieren sich, ein baldiges Ende rückt in Sicht. Grund zur Freude, aber ich kann es nicht fühlen. Hohl. Die Glotze läuft, nervt, und er kommt nicht wieder. Ich werde mir soeben der Wärme meines Körpers bewusst, ein seltsames Gefühl, irgendwie fremd.


 

23. April, Montag 3:45

Um Viertel kam ich aus dem Bett gekrochen, wieder Inkontinenz und Knieschmerzen. Das Malen gestern Abend auf der Terrasse war so ruhig und ohne Zwang. Ich versuche es wieder. Zudem hab ich mich entschieden nun doch 5 Tage durchzuziehen. Allein schon wegen dieser ständigen Pinklerei.
 

 

6:00

Draußen wird es hell und mir wird kalt. Das Bild ist immer noch unheimlich. Ein perfektes Abbild. Ein Abschied? Ich kann die Gedanken nicht abschütteln, es zu beenden und dann mich enden zu lassen. Mich in meinen Suizidfantasien zu verkriechen mag feige erscheinen, aber es gibt Sicherheit. Noch eine heiße Tasse Kakao? Wieder bluten? Gedanken und Fragen kommen und gehen, sind so unterschiedlich und verwirrend und entsprechen letztlich nur meiner instabilen Persönlichkeit.

10:20

Ich hänge. Es gab wohl ein kleines Missverständnis, ich schlief bereits auf den Stuhl gefaltet ein, als nach über einer Stunde Schwester Elisabeth mich erlöste und endlich klar war, dass ich doch nur wegen dem Kortison da bin. Und nun läuft es nur noch sporadisch durch den Babyvenflon. Hie und da piekst es unangenehm, ich sehe schwarz für unsre Beziehung. Schwarz, alles ist schwarz, denn meine Augen fallen immer wieder zu. Es ist wieder sehr ruhig in der Ambulanz; noch einschläfernder. Sebastians Kommentar zu meinem Bild lautete: „Süß!“, was für mich einer Beleidigung gleichkam. „Das soll aber nicht süß aussehen!“, irgendwie merkte ich, wie die Kortisonstimmung kippte. Das, was mir meine Seele aufgetragen hatte, hab ich nicht umgesetzt. Zu viele Tage Arbeit, zu viel Energie investiert, ich hatte Skrupel, es zu vollenden. Vollenden, wie meine Seele es will. Doch nach diesem Kommentar fühle ich mich regelrecht angestachelt es doch zu Ende zu bringen. Schnitte auf die blasse Haut, ein verwüstetes Puppengesicht.

Es wird mit noch einer Spülung nachgeholfen und die Prozedur kommt in die Gänge. Ein Happy End für Venflon und mich? Meine zuständige Ärztin sah kurz rein und auch sie war der Meinung, vor allem wenn das mit dem Zugang diesmal so wunderbar klappt, dass eine ganze Therapieeinheit angebracht ist.

Kollektive Gesichtsentgleisung als ich Richtung Pult rollere. Schwester Hedi überzeugt mich, dass es nur inszeniertes Entsetzen ist und ich schlage sie, überzeugt von ihrem schauspielerischen Können, für den Oscar vor. Nein, das Kortison blubbert noch, die Vene ist noch frei, ich habe lediglich meinen Wunsch geäußert, dass es zeitlich vielleicht ganz günstig sei, die Rettung zu rufen. 1:03, ich nehme noch eine letzte Feinjustierung der Geschwindigkeit  vor.


Nach 1:17 bin ich fertig und Schwester Hedi nimmt mich Flasche abhängend ins Gebet, als sie den Verband runterzieht: „Sind die neu? Wann tun Sie das? Nachts, wenn Sie aufstehen? Mit einem Messer?“. „Rasierklinge, ich bin Profi!“, ein schiefes Grinsen meinerseits und ich füge noch hinzu: „Jedem Tierchen sein Pläsierchen.“. „Ach, Frau Samer..“, und sie sieht besorgt in mein mittlerweile puppenhaftes Gesicht: „Man möchte Ihnen so gern helfen, aber wie?“. „Kopf abschrauben und einmal gründlich auspusten?“. „Aber es wäre doch schade um all die Dinge, die da drin sind, all die Lebenserfahrungen.“, sie guckt mich schief an. „Schon, aber auf so manche Erfahrung hätte ich verzichten können...“, beende ich verbittert das Gespräch und stapfe ohne Venflon von dannen. Sie sieht mir mit einem Ausdruck von Mitleid hinterher.

Heute Morgen hatte ich mich wieder nicht im Griff, der rechte Unterarm musste für meine Zwecke und Nöte herhalten. Es sieht auch sehr spektakulär aus, da das Heparin die Schnitte blutunterlaufen noch besser zur Geltung kommen lässt. Ich fühle mich anders, fühle mich gefährlich, da ich eine reelle Gefahr für mich selbst darstelle. ICH bin mein eigener Feind und zugleich Erlöser.


 

24. April. Dienstag 6:00

Nachdem ich nach Ewigkeiten nach Hause kutschiert wurde, über unmögliche Umwege die mir wieder Mal den nicht vorhandenen Mageninhalt hochtrieben, vergönnte ich mir eine nachmittägliche Entwässerungskur mit gekochten Kartoffeln. Und dann schlief ich nur noch, erst auf der Terrasse, dann im Bett und dann wieder auf der Terrasse. Fine setzte sich immer wieder einfach auf mich drauf und nutzte den erhöhten Aussichtsposten, wie der Hahn auf dem Mist. Um 19 Uhr quälte ich mich hoch um die Wäsche noch abzunehmen und kam gerade richtig um Sebastian samt Auto Einlass in die Autoscheune zu gewähren. Das Abendessen fiel spärlich aus, mir war nur noch schlecht. Und müde. Ich war zwar mehrfach wach, doch schlief dann letztlich bis halb 6. Nun bin ich kaputt. Mein Körper beginnt allmählich mit dem leidigen Zittern und die Feinmotorik, eben erst wieder entdeckt, geht flöten. Das Kortison scheint tatsächlich angeschlagen zu haben, die Spasmen sind so gut wie weg und ich werde es morgen mal ohne krampflösende Medikamente versuchen. Wenn sich nun noch das Thema Inkontinenz legt, bin ich wunschlos glücklich. Obwohl ich nicht mehr weiß wie es ist, glücklich zu sein. Ich fühle wieder nichts, außer Müdigkeit und das angenehme Gefühl des heißen Kakaos in meinem tablettengeschwängerten Magen. Die Nebelkrähen fliegen ganz tief übers Haus und ich bereue es, die Stinkewasserreserven gestern leeren zu wollen. Der Geruch auf meinem schwarzen Hemd ist wahrlich gruselig. Heute schon wieder waschen? Mir ist ganz flau, trotz Magenschoner, und mein Schädel dröhnt. Und irgendwo in mir ist auch eine Portion Frust, da ich heute für die Verhältnisse doch zu viel wiege.

Die Zeit will heute nicht so recht verstreichen, ich erwäge noch eine Tasse Kakao zu schlürfen. Langeweile führt doch all zu schnell zu Spannungszuständen...

Die Minuten brauchen Stunden um ihre Runden zu drehen, ich gelange soeben wieder an einen Endpunkt.

Ist es erstmal begonnen, findet die Prozedur kein Ende mehr. Versuche die Gedanken und Gefühle mit noch einer Tasse Kakao runterzuspülen. Noch mehr dunkle Schnitte auf der weißen Haut. Es brennt, ein zarter Schmerz. Gibt er wirklich Halt? Oder bilde ich es mir nur ein? Ist es zuwenig? Doch eines ist sicher, die Stille, die es mit sich bringt wenn es wie der Tod selbst mit jedem Klingenhieb durch den Körper fährt.

9:30

 

 

Ich rede immer noch zuviel, es nervt. „Die waren vorgestern aber noch nicht da!“, sagte der junge Arzt ganz ruhig als er den Verband am rechten Arm etwas runter schiebt. Zum Glück belässt er es bei dem Bisschen, die Wunden bluten wieder. Zuviel geplappert, die Verbitterung steigt mir ins Gemüt. Verbitterung wohl auch in meinem Gesichtsausdruck, doch ich bin allein hier am Tischchen und kann mich unter meinen Kopfhörern verkriechen.

Ich sinke in mich zusammen und denke an den Tod. Gehen, einfach gehen... Aber ich darf nicht. Warum nicht? Wissen wir denn, wohin es führt? Wissen wir überhaupt wo wir jetzt sind? Alles um mich rum, und auch ich als Teil dessen, verliert den Bezug zur Realität. Alles erscheint plötzlich wieder so absurd. Die Tatsache, dass ich hier bin, die Gegenstände, die mich umgeben, die Menschen in den Rollen, die sie verkörpern. Ich komme wir albern vor wie ich hier hocke und Zwieback in mich reinstopfe. Ich sehne mich nur noch nach etwas, das Bestand hat, Halt gibt und nie wieder loslässt. Finde ich all das im großen Nichts? Mein Kopf ist so schwer, mein Körper schmerzt, das Leben wird zur Last. Und dennoch, ich funktioniere. Lächle, als sich eine ältere Dame neben mich an den Tisch setzt. Warum tu ich das? Warum bin ich getrieben von dem Bedürfnis, dass es allen um mich rum gut geht, sie sich in meiner Gegenwart wohl fühlen müssen? Warum muss ich mich in Widersprüchen verstricken, bis ich mich zu sehr verheddert habe, als dass ich noch ausbrechen könnte? Wegrennen, doch wohin darf ich gehen? Wieder diese Schwere aussitzen, wieder überleben? Bin ich nicht depressiv genug? Ist es wirklich die Lust am Leben? Das schlechte Gewissen, das mir dann aber keine Qualen mehr bereiten wird?

Der Akku frisst sich runter, so wie es meine Lebenszeit tut während ich hier am Tropf hänge.


Nachmittag

Mir ist schlecht, mein Körper zittert und ist geschwächt, meine Augen sehen trüb. Der Himmel ist grau und ich weiß nicht wohin mit mir. Will nicht liegen, kann nicht stehen. Den Arm komplett zerschneiden und das Blut über meinen Handrücken laufen lassen. Es ist nicht heiß, es ist kalt, als sei ich bereits tot. Wer kann das schon so genau sagen.

 

 

Doch warum tut es nicht weh? Warum ist da kein Schmerz der mir den Weg weist? Doch tot? Die kritische Phase der Therapie beginnt, gemischt mit der ohnehin schon unerträglichen Langeweile und Depression, ergibt diese Getriebenheit erneut eine explosive Mischung. Die Wände hoch gehen, wenn ich nicht zu schwach wäre. Wirklich sterben, damit es endlich aufhört. Mein geliebter Tee –das einzige woran ich mich permanent klammern kann- schmeckt unter diesen Umständen scheußlich. Vor- und zurückwippen, wie bescheuert, doch vergeht die Zeit deswegen auch nicht schneller. Morgen noch, und dann den ganzen Scheiß hinterher. Es ist egal, nein, es wäre egal, wenn ich nicht ohnehin in einer kritischen Verfassung wäre. Will mich nicht mehr rechtfertigen, ob da nun neue Wunden sind oder nicht. Will nicht mehr darüber sprechen, weder über das Ritual noch über meine dubiosen Beweggründe. Will schweigen und zur Ruhe kommen, mit oder ohne Schmerz. Das Theater in meinem Kopf soll endlich verstummen!


 

25. April, Mittwoch  9:15

Gestern Abend, nach diversen Dämmerstunden auf der Terrassenbank, machte ich mir auf dem Weg ins Haus wieder mal in die Hose. Nicht Hochwasserhose, sondern Hochwasser in der Hose. Ich watete frustriert ins Bad um das Desaster zu beseitigen. Keine Körperkontrolle. Die Glotze war nicht zu ertragen, ich legte mich ins Bett und döste zu abendlichem Vogelkonzert weiter vor mich hin. Dann krabbelten wir beide auf die Couch, um 22 Uhr läutete das Telefon. Ich erschauderte, denn ich ahnte bereits was nun kommen würde. „Opa ist um 9 eingeschlafen...“. Ich hatte das Bedürfnis, Sebastian festzuhalten, stark für ihn zu sein, und war doch nur in Tränen aufgelöst. Ich hielt ihn, die ganze Nacht. Und war doch erstaunt darüber, wie er oder seine Mutter mit dem Tod umzugehen pflegen. Das kenne ich nicht. Heute Morgen saß ich mit meiner Tasse Kakao auf der Terrassentreppe. Ich war da, die Vögel waren da, der Weberknecht auf dem Sonnenschirm war da. Warum war er tot und ich noch am Leben? Sollte es nicht andersrum sein? Warum sterben jene, die es nicht wollen? Und ich bin immer noch hier?

 

Der Venflon war beinahe komplett abmontiert, doch er funktioniert noch. Mehr oder minder. Ich bin so unendlich müde und es fällt mir schwer, den Arm in einer adäquaten Position zu halten. Weglaufen....

Nachmittag

Ist es Zufall oder Nötigung? Warum kommen immer Berichte über MS wenn es gerade in meiner Gesundheit zwangsläufig im Vordergrund steht? Warum wird MS immer wieder in einem Atemzug mit Muskelschwund genannt? Ich fühle mich verleitet eine böse e-mail zu schicken. Und warum bin ich so blöd und sehe mir so was dann auch noch an? Meine Gelenke jaulen und Berichte dieser Art machen mir regelmäßig Angst. Das Laufen scheint so weit weg; was, wenn es diesmal nicht besser wird? Immer dieselben Fragen und Sorgen, die, sobald ich in meinen Laufschuhen stecke und die Straße runterwetze, wie weggeblasen sind. Doch so weit ist es noch nicht, ich bin nicht so weit und denke wieder daran, dass es für alle besser sei, wenn ich mich endlich aus dem Weg räume. Wieder stelle ich mir die Frage, warum ich schwanger werden möchte. Es ist so schrecklich warm, mein Dachschaden freut sich und meine Neurologin hat mir „angedroht“, dass wenn sich die Lage in einer Woche noch nicht entspannt hat, ich in Kontakt mit einem Urologen treten darf. Gruselig... 3 Schübe hatte die gleichaltrige Frau in der Glotze und bekäme angeblich regelmäßig Kortison und hat dadurch 10kg zugenommen. Der erste Gedanke war: Regelmäßige Kortisongaben? Der Zweite: Was ist, wenn ich diesmal zunehme?

Der alte Mann im Rettungswagen war schon anstrengend genug. Wegen „mir“ hatte es etwas länger gedauert und er gab bei der Heimfahrt murrend zu wissen, dass es ihm gar nicht passen würde, dass es wegen einem andren Patienten so lang gedauert hatte. Und dann bei sich zu Hause, als seine Frau bereits beim Rettungswagen reinzeterte, warum es so lang gedauert hätte, gab er noch ein „Ein Weibsbild war mit!“ von sich. Bin ich gekränkt? Verletzt? Es würde mir im Leben nicht einfallen, an so einer Situation herumzuquengeln. War ich aus Spaß da? Ist es so lustig, beinahe 2 Stunden in irgendeiner Verrenkung auszuharren? Anscheinend ja......

 


 

26. April, Donnerstag Morgen

Das Eichhörnchen wuselt soeben wieder durchs Laub am Waldrand zu meiner Linken. Ich kann es kaum erkennen, meine Augen sind vom Kortison sehr in Mitleidenschaft gezogen. Gestern Abend hatten wir noch intensive Gespräche, es tat gut und ich fühlte mich wieder wohl. Und nun lass ich den Tag auf mich zukommen. Meine Gelenke sind immer noch beleidigt, doch ich werde mich heute endlich aufrappeln und etwas dagegen tun. Ein bisschen dehnen, ein wenig spazieren gehen, um wieder Kraft zu gewinnen. Die Lähmungsaussetzer der rechte Körperhälfte sind immer noch da, doch vielleicht ändert sich das, sobald ich wieder laufe. Ich fühle mich ungewohnt ruhig und entspannt. Das Antidepressivum? Mir ist im Moment alles egal, mein Gewicht war heute Morgen im grünen Bereich, was grundsätzlich schon für Wohlbefinden sorgt. Ich konnte ausschlafen, auch wenn der Eichelhäher im Garten einiges lautstark zu bemängeln hatte. Ich fühle einen Aufbruch in mir, ein neues Kapitel, ein neuer Kampf. Ob ich ihn meistern werde?
Abend

Hei, fein! Nach Pro Sieben entdeckt nun auch die Bild die MS als lohnendes Mitleidsartikelfundament. Nun langsam glaube ich wirklich an eine Verschwörung oder ähnliches. Und nachdem Sebastian mir die Zeilen verlesen hat, fühle ich das innige Bedürfnis in Selbstaufgabe unterzugehen. Ich könnte kotzen! So ein Schwachsinn. Und ich wäre nicht verwundert gewesen, wenn wieder Muskelschwund als eines der Symptome genannt worden wäre. Ach, bei mir ist alles in Butter. Langsam aber sicher beginnt sich nun das Wasser einzulagern, mein Körper fühlt sich matschig an. Und da wäre noch der Ausschlag, der nun meinen Body zu zieren pflegt. Hach, es kann doch so schön sein. Und nach dem 4. Telefonanruf war ich wieder in Bombenstimmung. Was tun? Noch mehr rum liegen, die Augen vor der Trübheit verschließen, nicht in Kontakt mit Anstrengung und folgenden Schwächeerscheinungen treten und eine abendliche Kartoffelkur zelebrieren. Und vielleicht daran denken, wie arm ich doch bin, nur dass es mir bis jetzt noch nicht bewusst war. Aber dank den Medien bin ich nun voll im Bilde! Mitleid!!!!!


 

27. April, Freitag 8:20

Guten Morgen Welt, guten Morgen Traktor. Das Wasser ist nun an seinem Bestimmungsort angekommen, mitten im Gesicht, und noch vor Vollmond ist bei mir das Mondgesicht aufgegangen. Mit einem Entwässerungstee Marke Eigenbau –Goldrute, Birke, Brennnessel, Zinnkraut- starte ich in den Tag und bereue es bereits jetzt, aus dem Bett gekrochen zu sein. Wer hatte da gestern kurzfristig in einem Anfall von Energie daran gedacht heute in die Laufschuhe zu hüpfen? Abgesehen von der Getriebenheit und Unruhe, die immer wieder Verletzungsgedanken aufkeimen ließ. Die Lähmungsaussetzer scheinen heute noch massiver, die Augen noch „betrübter“ und der Rest drum rum ohnehin im Arsch. Doch eines gibt es zu vermelden: Hurra! Ich hab es nach dem Aufstehen rechtzeitig ins Klo geschafft. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer für mich? Am besten einen Ausfallschritt, weg vom Urologen. Und wie entspannend ist es doch im Bett zu liegen, OHNE Spasmen, total entspannt. Zwar auch kaputt und schwach, aber entspannt...

Abend

Schlafen, schlafen, schlafen... Zwischenzeitlich bekomm ich nicht mal die Augen auf. Ich war kurz spazieren, ein paar Schritte. Die Straße entlang, durch unsren prachtvollen Erlenwald. Entwurzelt; keinen Bezug zum Boden, noch zu all dem um mich rum. Als hätte man mich eben hier ausgesetzt. Der Körper unwahrscheinlich schwach und der Geist überfordert mit abstrusen Gedanken und Erinnerungsfetzen. Dauerbeschuss im Hirn. Teetrinken auf der Terrasse, gähnen und verleitet, mich auf der Bank erneut lang zu machen. Die rechte Körperhälfte streikt, Ängste und Hoffnungen geben sich die Hand, Suizidgedanken und ein Lächeln auf den Lippen. Absurd, und doch da. Drinnen steht der Topf mit den Kartoffeln und köchelt vor sich hin. Wäre dem nicht so, würde ich längst wieder schlafen. Es ist so schön sich auszuliefern, fallen zu lassen, nicht mehr handeln oder agieren. Einfach treiben lassen, wie narkotisiert... Egal, es ist alles egal. Gebe mir keine Mühe mehr, mein wahres Gesicht zu verbergen. Die Schnitte wieder am Verheilen. Wieder gähnen. Ich kann nicht mehr. Schlafen...


 

28. April, Samstag 8:45

Langsam scheine ich aus meinem Dornröschenschlaf zu erwachen und ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass es mir noch nie so gut nach einer Therapie ging. Nicht physisch, aber psychisch. Wirkt die doppelte Dosis Antidepressivum nun doch? Nicht gehetzt, kaum Herzrasen, nicht gereizt. Einfach nur da, ein wenig durcheinander, aber in Ordnung. Auch die Kartoffelkur wirkt sich positiv auf mich aus. Denn ist mein Gewicht akzeptabel, bin ich so was ähnliches wie harmonisch. Zudem ist mein Gesicht dann doch nicht so derb angeschwollen und mein geliebter Grüntee schmeckt allmählich auch wieder. Mein rechtes Bein ist heute recht steif und auch der Arm ist in Mitleidenschaft gezogen. Aber wer weiß; vielleicht versuch ich es schon heute Abend? Die Straße hoch und runter?

Wenn es nur endlich regnen würde. Ein unwiderstehlicher Duft liegt in der feuchten Morgenluft, die Amseln singen und unsre Lieblingsnachbarn gehen ihrer zweiten Lieblingsbeschäftigung nach: Rasenmähen. Ich werfe brav meine Tabletten ein, während der Turmfalke direkt über mich hinweg fliegt.

Martha hat sich nun dem Kronkorken abgewandt und fühlt sich zu größerem auserkoren. Unser Rehbock kommt aus dem Wald auf die Wiese und sie nimmt kurzfristig die Verfolgung auf. Es ist wunderschön, doch schon kann ich wieder fühlen, dass die Situation jeden Moment kippen könnte. Langeweile ist mein ärgster Feind. Die Katze mit dem Fotoapparat verfolgen. Ein undankbares Model. Hoffentlich kommt Sebastian bald, es gibt nichts fürchterlicheres als eine hungrige Frau. Hungrig und gelangweilt.

(......HUNGER!!!!....)

 

10:00

Immer noch allein, immer noch Hunger. Wo bleibt der Mann? Aber noch wichtiger als diese Frage: Wo bleibt das Frühstück? Ich bemerkte gestern bereits, dass ich anfange zu futtern. Mit nur einem Unterschied: Ich nehme nicht zu, denn das was ich futtere ist harmlos. Und da wäre ja noch das Laufen. Obwohl ich leichte Halsschmerzen hab (schon wieder) und ich bin immer noch erstaunt dass mein Körper seit drei oder vier Stoßtherapien so aufs Kortison reagiert. Also doch nicht laufen?

17:00

Langsam aber doch. Mal sehen, was mein Körper zu 15 Minuten Laufen zu sagen hat....

 


 

29. April, Sonntag Abend

Heute der zweite Lauf. Es war schön, wieder kraftvoller als gestern. Doch bei unsren neuen Nachbarn hab ich mich verplappert, zu viel geplappert. Und nun ist es mir wieder peinlich und ich könnte mir in den Arsch treten dafür. Nein, mein eigentlicher Gedanke ist, mich aufzuschlitzen. Tu oder lass ich es? Der gesamte Tag war verseucht mit Realitätsverzerrungen. Immer wieder ging ich in mich, schloss mich in meiner dunklen Kammer ein und wartete. Und das, was mir immer und immer wieder durch den Kopf ging, war, ob das wirklich schon alles ist. Ob mein Leben nur noch daraus besteht, es abzusitzen. Kann das wirklich schon alles gewesen sein? Wo ist der Sinn im Leben, mein Sinn? Ist es der, hier zu hocken, zu warten, und auf Abruf für andre parat zu stehen? Ab und an ein lustiger Moment, gemeinsames Lachen und dann wieder nichts? Welchen Zweck erfülle ich? Außer dass ich die Luft atme, die mich umgibt. Der Gedanke an Verletzung ist eng verbunden mit einem Gefühl der Sehnsucht. Hunger nach mehr, nach aufgefangen werden und zugleich nach Strafe. Etwas, das leitet und mir den Weg weist. Mich bestrafen für mein bescheuertes Verhalten? Die Bilder vor meinen Augen werden intensiver, brutaler und endgültiger. Und die Hemmung, den Fantasien tatsächlich nachzugehen, sinkt fühlbar.

 

Nun ist sie da, die Dunkelheit und die Grillen zirpen im hohen Gras. Unheimliches Rascheln im Wald, der Wind streift sanft durch das junge Grün in den Bäumen. Bin nicht allein und wär’ ich es, wäre es anders? Würde ich noch immer hier sitzen und mich an meiner heißen Tasse festhalten während das Zitronenöl in der Duftlampe verdampft? Es ist schön, wunderschön, ohne Frage. Doch was bringt es? Wohin führt es? Hab ich ein Ziel? Einen Hafen, den ich nach dem Sturm ansteuern kann? Die Liebe? Und doch, die Frage bleibt: Ist das alles? Ab und an ein Bild malen, was mehr Energie kostet als dass es im Entstehungsprozess Freude bereitet. Ab und an im Krankenhaus antanzen, um mich therapieren zu lassen und Arbeitsgrundlage für die Ärzte und Schwestern zu liefern. Ab und an ein paar Worte wechseln, mit Menschen, die meinen Weg kreuzen. Ist DAS alles? Bin ich überhaupt bereit für mehr, geschweige denn stark genug? Ich weiß nicht, was ich suche. Ich weiß nur, ein Kind ist es nicht. Zu sehr würde all dem der Grundgedanke des Missbrauches anhaften. Und all die Zweifel und Ängste... Ich weiß nicht wohin. Doch der letzte Weg des Tages wird auf dem Sofa enden, inklusive Berieselung durch die Glotze. Und vielleicht werde ich mich hassen, dass ich ein braves Mädchen war...


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