VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2006

 

29. Juli 2006, Samstagnachmittag

Mittwochs der verzweifelte Versuch, an meiner Situation etwas zu ändern. Kurzausflug in die Neuro, die sich nun nach den Umbauarbeiten voll und ganz in Lila präsentiert, bzw. einen damit erschlägt. 2 ½ Stunden Warten, mit dem Ergebnis, weiter abzuwarten. Ich höre immer noch genau so schlecht, sehe immer noch genau so mies, doch ein anderer Umstand ist eingetreten und scheint die Idee einer Kortisontherapie im Keim zu ersticken: Starke Venenschmerzen in beiden Kniekehlen und Waden. Stark? Oder besser massiv bis angsteinflößend? 31°C im Schatten und ich in Stützstrümpfen auf der Bank. Den gesamten Abend hatte ich damit zugebracht mich über das Thema Thrombose und Embolie zu informieren. „Niedermolekulares Heparin als Prophylaxe“, „NHM schützt vor weiteren Thrombosen“, aber irgendwie fühle ich mich nicht sicher. Ich habe nicht Angst davor tot umzufallen, aber Angst, WIEDER im Krankenhaus zu landen, WIEDER für unbestimmte Zeit und mich nicht bewegen zu dürfen. Seit 5 Tagen verpasse ich mir täglich morgens und nun auch abends eine Heparindosis, aber die Angst bleibt mit den Schmerzen, die mich wiederum wach halten. Mittlerweile ziehe ich in Erwägung, mit den hässlichen Strümpfen laufen zu gehen. Jedes Schmerzsignal wird panisch registriert. Nun auch im Oberschenkel. Ich mutiere zu einem schreckhaften Wesen mit hauchdünnem Nervenkostüm. Wieder Strümpfe mühevoll ausziehen und Linderung unterm kalten Wasserstrahl suchen. Alles staut sich, auch in den Armen. Platze ich endlich? Warum nicht?

Ich versuche mich auf den Venenverschluss vor über einem Jahr zu besinnen. Doch..., verdächtiges Rollern unten auf der Straße. Unser Nachbar wird doch nicht etwa den Rasenmäher anschmeißen? Jetzt, wo der Arsch von Wochenendnachbar drüben aufm Hang aufgehört hat mit seinem scheiß Moped sinnlos und vor allem LAUT seine Runden zu drehen?

Der Rasenmäher bleibt aus, doch während ich mich krampfhaft auf letztes Jahr zu besinnen versuche, schmeißt er sein Moped wieder an.

Der Arm war damals dreifach so dick angeschwollen, Halsschmerzen, ich bin fast ausgelaufen und musste mich übergeben. Nein, die Beine sehen noch gleich aus, oder? Ein schlanker, beigefarbener Käfer rüsselt meinen rechten Handrücken mm für mm genüsslich ab, während der Trampel sich und sein nervendes Gefährt den Hügel hoch quält. Warum beschwert sich niemand??? Widerlicher Gestank liegt in der Luft, ein Hauch von schwerem Dieselöl. Nun wird mir doch etwas schlecht. Ein Windstoss; und beinahe hätte die nächste Seite den unbedarften Käfer getroffen. Hoch und runter und hoch und runter fährt der Arsch. Raus aufs Land und Hirn zu Hause lassen um mal richtig schön auf die Kacke zu hauen.

Eine dem Käfer zu nahe tretende Fliege wird eindrucksvoll mit einem plötzlichen Beinchenstampfer verscheucht. Hartnäckig ist er und will nicht von meiner Seite weichen, als ich aufstehe um ins Haus zu gehen. Letztendlich kann ich ihn überzeugen und er lässt etwas enttäuscht von mir ab.

Die Nacht war anstrengend, mal abgesehen von den Schmerzen und der Hitze. Ein überdimensionales Dauerdejavue, mit ziemlich viel Blut und alles in Traumform. Etwas verstört erwachte ich aus diesem, wahrscheinlich der Schmerzen wegen. Hatte ich vorhin Halsschmerzen genannt? Ja, es kratzt schon etwas im Hals, aber da wir heute bundesweit die höchsten Ozonwerte haben, mache ich mir nicht all zu große Gedanken. Im Süden zieht eine dunkle Wolkensuppe auf. Hoffnung auf Regen. Schierling und Stachellattich links von der Bank wachsen um die Wette, obwohl die Blumenpracht dahinter an der Hitze zum Erliegen kommt.....


30. Juli, Sonntagnachmittag

Ein weiterer heißer Tag in meinem abstrusen Leben geht unbeirrbar seinen Gang, wieder schwitzen wir in der Sonne, bzw. Schatten und unterhalten uns über seltsame Dinge, Banalitäten, Horrorszenarien und dem Danach. Wir versuchen uns gegen angreifende Kampfbremsen zur Wehr zu setzen, Sebastian puzzelt und ich trinke Tee.

Heut’ Morgen noch eine dicke Wolkendecke über uns und ich mit unter langen, schwarzen Laufhosen verborgenen Stützstrümpfen am Start. Der Himmel fand das so witzig, dass die Sonne auch einen Blick auf mich werfen musste. Und ab dem Punkt wurde es zur Schinderei.

Ich warte immer noch darauf, dass ich endlich platze, mein Schädel übt schon Mal mit Migräne, meine Venen zicken rum, die Knie schreien, die rechte Plantarsehne am Kreischen, die Oberarme ohnmächtig, blutleer und schwach. Bäääähhh... Gebt mir eine kleine Depression und ein Hochhaus!

 

Der Tag schreitet voran, Sebastian ist mittlerweile zur Expansion gezwungen und sortiert die Puzzleteilsituation auf dem Holztisch neu, Lavendelduft liegt in der Luft, die Bremsen scheinen vom Eu Fraiche aber eher angezogen als abgestoßen und fliegen sozusagen direkt in ihr Verderben. Seltsame Insekten kommen und gehen, der Schierling ragt mittlerweile über Sebastians Gartenstuhl, als wolle er ihn verschlingen. Es ist still, gegen nichts in der Welt möchte ich dieses Fleckchen eintauschen. Nur Heuschrecken, Zikaden, Grillen, ein Hahn und ab und an das vorsichtige Rufen einer Goldammer im Dickicht der jungen Erlen am Hang. Ein Scheckenfalter setzt sich in Sebastians Puzzlekarton neben mir auf der Bank, doch er ist zu schnell, als dass ich ihn bestimmen könnte. Scheckenfalter oder Perlmutterfalter? Wieder greifen die Bremsen an, trotz bereits zwei gefallener Kameraden. Diesmal in der Gruppe, boshaftes Surren liegt kurzfristig in der schwülen Luft, Sebastian kippt sich noch mehr Lavendelwasser über Kopf und Arme. Dann wird mir aus heiterem Himmel schlecht, es stinkt schon wieder nach Öl.


1. August 2006, Dienstagnachmittag

Beim gestrigen Telefonat wurde vereinbart, noch eine Woche zu warten, zumal es nun ja kühler werden soll und sich eine Verbesserung einstellen könnte. Abschließend sagte die Neurologin: „Die Symptomatik, bis auf das Problem mit dem Gehen, klingt für mich doch recht untypisch.“.
Das ließ mich nicht mehr los und ich dachte nach: ,,Keine Mittelohrentzündung... nicht ms-typisch, hm... Ah! Heureka!“. Die Ergebnisse einer Suchmaschine bestätigten meinen Geistesblitz. Es könnte doch auch rein theoretisch möglich sein, dass eine der 4 Zecken dieses Jahres so nett war, mir eine Borreliose anzuhängen. Das würde vieles erklären. Heute dann wieder in der Neuroambulanz angerufen, Schwester Elisabeth beruhigte mich und ich solle morgen nochmals anrufen, wenn meine Ärztin da sei. Wie immer hab ich Angst auf die Nerven zu gehen, im schlimmsten Falle eine Abfuhr erteilt zu bekommen, aber was bleibt mir schon übrig? Ich höre immer noch schlecht, die Welt ist visuell betrachtet gleich „doppelt so schön“ und die Beine fordern Urlaub, obwohl sie den ganzen Tag nur faul auf der Couch rumlungern. Der Zustand des „Mir geht es nicht gut, aber alles ist noch ungewiss“ hat den schönen Vorteil, dass ich psychisch stabil bin und nicht austicke. Kontrastprogramm vom Feinsten, absurder geht es kaum noch.

Es regnet, der Himmel ist mit grauen Wolken verhangen, die Sonne hab ich heute nur ganz kurz beim Laufen zu Gesicht bekommen, das hat schon gereicht. Unser lieber ACAC senior ist heute liegen geblieben. Seit der Neue da ist, fühlt er sich so ausgestoßen. Das könnte auch daran liegen, dass der Neue in der Autoscheune steht und der Alte draußen im Regen, GANZ allein, in der GROSSEN KALTEN Welt. Welches Auto würde da nicht depressiv werden, sich abgeschoben, ja, gar abgeschrieben fühlen? Ahnt er bereits, dass er bald weggegeben wird?

Nun, zu später Stunde, begibt sich mein Körper wieder vollkommen in den alltäglichen „Sich gehen lässt“ –Zustand, was doch sehr interessant ist, da ab und an neue Gebrechen zum Vorschein kommen und für eine nie langweilig werdende Vielfalt sorgen. Heute gibt’s zum Dessert kaprizierte Außenbänder! Die versehrten und instabilen Bänder meines linken Fußes zeigten sich vom Ausflug in den Wald gestern früh ganz und gar nicht begeistert. Traumatische Erinnerungen kamen hoch, an auf der Straße lauernde Steine, die einen zum Reißen bringen wollen. Dreimaliges Umknicken bedingt durch die Unebenheit des hinab gelaufenen Hohlweges, das war zu viel. Das ganze noch in Neutralschuhen und nicht wie anzunehmen in Traillatschn. Und dann heute Morgen noch einen unangenehmen Kontakt mit einer Spurrinne im Asphalt gaben ihnen den Rest. „Neee!“, bringen sie nun mit einem blauen Fleck überm Sprunggelenk zum Ausdruck :“Neee, NEEEE!!!!!“. Einstimmiges Kopfschütteln, bzw. Ziehen an der Außenseite. Das linke Knie meldet sich auch. Gut, ich gebe es ja zu, dass der Sturz gestern auf dem Feldweg vielleicht zu viel des Guten war und ich es mit meinem Humor vielleicht doch etwas zu weit getrieben hab. Aber wer kann denn ahnen, dass das Knie sofort bei so nem kleinen, doch eigentlich lustigen Streich verzweifelt zu bluten beginnt? Und dann die Rheumasalbe mit dem Schweiß in die Wunde gelangt? Das war doch im Vorhinein nicht abzusehen, dass es so unerwartet reagiert. Im Großen und Ganzen kann ich behaupten, das Laufen gestern hat sich sozusagen auf ganzer Linie bezahlt gemacht. Hallo Ischias!! Themenwochen, dieses Mal "Es lebe die linke Körperhälfte!".

Bäh, da kommt doch tatsächlich die Sonne zwischen den Wolken hervor. Meine Stimmung sinkt in den Keller, denn plötzlich wird es wieder schwül. Igitt! Geh weg!!!

Die Sonne kommt, die Migräne breitet sich aus, die Zähne kreischen bei jedem Schluck Tee auf, ich hab schon wieder Hunger, die Temperaturen steigen, ich könnte auch schon wieder einschlafen und von den frisch gebackenen Brötchen träumen, die drüben auf der Küchenzeile stehen und auf Margarine und Käse warten. Eine Stunde noch; das Leben ist nicht fair!


2. August, Mittwochmorgen

In ein paar Minuten werde ich zum Hörer greifen, die Aufregung ist kaum auszuhalten. Der Himmel ist wieder grau, wie schön, ab und zu nieselt es etwas. Ich habe mir meine Sätze parat gelegt, wohl wissend, dann doch wieder nur rum zu stammeln bzw. später noch mal anrufen zu müssen.

Spannung, es klingelt.

Arg, die Neuro ist besetzt.

Warten. Tee trinken. Es regnet wieder.

Zweiter Versuch. Güssing? Wieso Güssing? Die nette Dame verbindet mich weiter. Sie hat soeben einen Patienten, in einer halben Stunde noch Mal anrufen. Das vormittägliche Warten nimmt seinen Lauf. Aufgaben im Haushalt werden in Angriff genommen.

Kurzausflug in den Garten, eine Gurke ernten, ein Petersilienpflänzchen umsetzen, hier und da  Gräser zwischen den Pflanzen rauszupfen. Die Sonne schielt zwischen den Wolken hervor. „Leg dich wieder hin, schlaf ruhig weiter...“

Kaum Zeit vergangen. Der Ischias zieht und zwickt und ich könnte einschlafen. Im Garten wäre so vieles zu tun. Ich fühle mich ganz unwohl, wenn ich all die Arbeiten sehe. Da kriecht die Brombeerhecke durch den Zaun in den Komposthaufen hinein, dort hängen die Tomatentriebe hilflos und stützbedürftig im Wind, das zweite Kartoffelbeet möchte geerntet werden, ich wollte noch einen Sichtschutz für unsre Outdoordusche basteln, und, und, und....

3. Versuch. Hm....

Sie meint, das sei eher unwahrscheinlich. Man hätte dann wohl etwas auf dem Audiogramm sehen müssen Aber man könnte irgendwann mal auf Borreliose mit nem Blutbefund testen. Gut. Ich gebe mich erst Mal damit zufrieden und werde mich nun fröhlich in den Alltag stürzen. Die Sonne versucht es ja soeben wieder.


3. August, Donnerstagnachmittag
Die Wäsche hängt draußen auf der Leine und geht von feucht in klatschnass über. Es regnet. So, als wäre es nie anders gewesen. Mein Körper spielt verrückt. Muskelschmerzen, ohne Grund, Zuckungen in der rechten Gesichtshälfte, ein seltsames Gefühl in den Beinen schon beim Laufen heute Morgen. Und die Liste geht endlos so weiter. Suizidgedanken, als ich wach im Bett lag, das Fenster anstarrte und doppelt sah. Der Dejavueanfall auf den letzten Laufmetern, bevor ich nach Hause kam, war wieder Mal eine Wonne, der Gemütssturz somit vollendet. Die Musik auf volle Lautstärke, aber ich höre sie nicht. Es ist zum Kotzen. Wortwörtlich, denn mein Mageninhalt hängt bereits wieder auf Halb Acht. Etwas malen? Aber ich bin so unendlich müde und in Gedanken längst bei einem Punkt. Der einzige Punkt, der Stillstand verheißt. Nicht mehr spüren müssen und vergessen...

Und als sei es ein Zeichen, spuckt die Shufflefunktion all die deprimierenden Lieder hintereinander aus, die ich je mit dem Ausklinken aus dem Hier und Jetzt in Verbindung gebracht habe. Die Sehnsucht drückt.

Das Blut sehr dünn, Schnitt neben Schnitt auf dem blanken Arm, Tropfen um Tropfen finden sich in der weißen Badewanne wieder und summieren sich zu kleinen Pfützen. Und nun? Der Kopf schweigt wie der Rest von mir, es gibt nichts mehr zu sagen. Absolute Stille in mir. Heilung...


6. August, Sonntagmittag

Grauer Himmel, im Nieselregen die Bundesstrasse entlang. Unzählige Tode gestorben. Ich brauche es. Der Gedanke, das hier beenden zu können wann immer ich möchte, spendet Trost. Es zieht mich runter, aber fängt zugleich irgendwo im Nichts auf und bringt Stille. Ich denke nach, über den Lauf heute Morgen, über die Schmerzsignale, die soeben wieder in mich vordringen, über die Ungewissheit, die das Leben mit sich bringt und ertappe mich selbst dabei, dass ich mein Gesicht erneut schutzsuchend und alles ausblendend in meinen Händen vergrabe.

 

Die Oberschenkelmuskulatur steinhart. Seit Tagen schon. Doch erst heute kam mir der Gedanke, es könne sich auch um eine leichte Spastizität handeln. Ich habe es satt, alles einfach so als gegeben hinzunehmen, also warf ich mir schon vor dem Frühstück 5mg Lioresal ein. An dem Zustand, dass ich mich nun kaum noch vernünftig bewegen kann, lässt sich dann doch nichts ändern. Und ich bin froh erschöpft auf den Stuhl sinken zu können. Die Schwäche und Müdigkeit retuschiert die Grundverfassung. Keine Zweifel daran, dass ich mich ausruhe. Es kann Stunden dauern, bis es seine Normalität verliert und mein hellwacher Geist sich des Käfigs in dem er steckt bewusst wird.

 

Wieder schlafen, schlafen...


14. August, Montagmittag

Meinen Montags-Anruf in der Neuro getätigt, meine schleichende Verschlechterung dargelegt, und nun doch noch für eine Stoßtherapie entschieden. Das Urbason soeben in der Apotheke telefonisch bestellt, somit steht dem hoffentlich möglichen Ende dieses Dauerdramas nichts mehr im Wege. Mittwoch geht’s dann wieder los, über drei Tage Giftmüll scheffeln.

Nachmittag

Der Körper müde und erschöpft, aber der Geist hellwach und unerträglich aufgekratzt. Seit gestern schon brennt diese Sehnsucht wieder in mir, das Verlangen nach Blut, nach Verletzung. Meine Vernunft hält dagegen: ,, Nein, nicht wenn du ins Krankenhaus musst, nicht jetzt.“, und bestärkt den Körper in seinem Vorhaben, an Ort und Stelle kleben zu bleiben. Ich weiß noch nicht wofür ich mich entscheiden werde. Den Versuch starten, das Ausklinken zu umgehen. Gut und vermeintlich Böse zanken sich weiter um meine Seele. Sitzen bleiben oder austicken, es bei den ohnehin sichtbaren Spuren belassen oder noch eins draufsetzen, weil es bei den bereits vorhandenen, mehr oder minder frischen Malen auch keine Rolle mehr spielt? Mir ist schlecht... Raus und fliehen...

 

Wieder zurück, der kurze Spaziergang bzw. dessen Stil lässt die Therapie noch sinnvoller erscheinen, zumal es ja „nur“ eine kleine ist. Ob Schub oder nicht Schub, ob es hilft oder nicht, ob es sinnvoll ist oder nicht, den Versuch ist’s wert. Wieder auf der Suche nach kleinen Arbeiten, die abhalten.

Doch es endet wieder am Ausgangspunkt. Die Versuchung lockt. Plötzlich beginnt es zu regnen, die fast trockene Wäsche wird wieder nass. Die ganze Arbeit umsonst. Frust. Eine neue Klinge bedeutet tiefe Schnitte, bedeutet tiefrote Wunden die sich lange halten werden. Es wagen? „Druckventile“ schaffen? Hält mich die Scham ab oder die Vorstellung, den Arm entblößen zu müssen und Blicke, so wie Fragen über mich ergehen zu lassen?

Wie lange ich auch darüber nachdenke, die Antwort bleibt die selbe: Es ist mir egal. Es spielt keine Rolle. Bedeutend sind nur die Gefühle, die jetzt im Moment von mir Besitz ergreifen. Von Bedeutung sind die Schleifspuren, die der Traum heute Nacht an meinem Gemüt hinterlassen hat. Wieder war es der Tod, und wieder fühlte ich diesen unendlichen Verlustsschmerz tief in meinem Bauch. Er war so real, so grausam. Seitdem meine Gedanken gelüftet sind, spüre ich den Tod. Immer wieder holt er aus und schlägt eindrucksvoll zu. Die Wucht lässt sich kaum in Worte fassen...

Somit sind Gründe gegeben, danach hab ich ja allem Anschein nach gesucht... Also was soll’s?

 

Der Schmierölgeruch haftet an meinen Fingerkuppen und Erinnerungen werden wach. Diese Stille macht ruhig, so ruhig dass ich in mir versinke. Wie eine Betäubung, ein Schmerzmittel, eine Droge... Ich spüre wie es jedes Molekül umschließt und einlullt. Ich sehe Weiß, unendliches Weiß, ich verharre und sehe zu, wie die Zeit an mir vorüber fliegt... Lasse mich fallen, lasse es auf mich wirken, lasse mich aus der Realität ausblenden.... Und wage es nicht mehr, die Augen zu öffnen, zu kostbar, zu heilig dieser Augenblick...


16. August, Mittwochvormittag

Endlich im Krankenhaus angekommen, mit Rettungsfahrdienst und einem umgedrehten Magen. Dann zwei Ärzte, zu allem bereit und zu Späßen aufgelegt. Der Erste setzt sich an den rechten Arm. Aufatmen. Doch dann kommt der Zweite hinzu und zieht den linken Ärmel hoch. Für einen Augenblick zieht sich in mir alles zusammen. Unnötig wie sich herausstellt. Professionell, ohne glotzende Blicke und ohne ein Wort darüber zu verlieren, beginnt er mit der Suche nach der einzig wahren Vene. Er kaschiert die Situation mit diversen Witzen, er nimmt mir förmlich die Kommentare aus dem Munde. Diesmal nur ein Stich vergeudet, die Ärzte hätten ja laut ihrer Aussage mit dem Abziehen jedes einzelnen  Venflons vom Lohn und somit dem baldigen Hungertod zu rechnen.

Und nun sitze ich hier hinten in der Kinderecke, mit Gerri auf dem Schoß und einer Schüssel Wassermelone und erfreue mich am soeben stattfindenden Geschmacksverlust. Erfreuen ist der falsche Ausdruck. Mein Gemüt sackt nach dieser Aufregung in den Keller und ich bin nachdenklich und froh über die Stille um mich.

 

Die Hälfte ist bereits geschafft. Keine Freude. Ich fühle erneut nur Schwarz. Menschen kommen und gehen, ausnahmslos Ältere. Sie warten, sind unruhig, gehen den lila Flur auf und ab. Die Musik donnert böse in meine Ohren, der Akku hält tapfer mit. Wieder; aufschlitzen, sterben.

Meine Beine, gefangen in diesem Schwächeschmerz, senden eindeutige Signale. Die Schnittversuche gestern Abend konnten mich nicht befriedigen, die alte Klinge war einfach zu stumpf. Ein unheimliches Geräusch als die Kante kratzend über die Haut glitt.

 

85 Minuten später bin ich fertig. Mittlerweile steht die Frage im Raum, ob die Krankenkasse den Transport mit der Rettung überhaupt bezahlt, oder ob in Kürze eine fette Rechnung bei mir ins Haus flattert. Der Transportschein sei kein richtiger Transportschein. Mein Gesicht wieder leichenblass, die Lippen leuchten rot-blau und mir ist alles andere irgendwie ohnehin egal. Werde ich nun abgeholt oder bleib ich hier hocken bis ich schwarz bin?

Abend

Die Diskussion zwischen Schwester Hedi und dem Rot-Kreuz-Fahrer ergab nicht unbedingt einen Konsens, dennoch versicherte er mir, dass das alles schon so in Ordnung gehe.

 

Um halb Zwei war ich wieder zu Hause. Haltlos und durcheinander.

Die Glotze war nicht zu ertragen. Die Musik auf volle Lautstärke und ich ließ mich auf einem meiner unzähligen Hocker direkt vor der Terrassentür nieder. Unruhe peitschte meine müden Glieder und ich torkelte ins Bad.

Zu wenig getrunken, das Blut zu dick. Anspannung. Keine Erlösung. Die neue Klinge scheiterte.

Zurück auf der Bank. Die Erdanziehung verdoppelte sich. Ich fiel. Schwerer, immer schwerer. Der Schmerz  gab nur zu kurz Halt und ich rutschte erneut ab.

Wieder ins Bad. Wunden quer über die zerschnittene Fläche.

Vom Schmerz betäubt, kroch ich wieder ins Wohnzimmer zur Bank an der Terrassentür und sank benebelt in die Kissen. Dort blieb ich liegen, Stunde um Stunde. Halb sackte ich weg, halb starrte ich nach draußen, mit Suizidgedanken, die meinen Kopf komplett auffüllten.

 

Gleich 8 Uhr abends und ich sehne mich erneut nach Schmerz. Wenn ich dem Treiben nun nicht Einhalt gebiete, nimmt es kein Ende, obwohl mir das sowie dessen Konsequenzen im Moment vollkommen egal sind.

 

Ich verliere mich.

Ich kann mich nicht fühlen

Ich will endgültigen Schmerz spüren und endlich sterben.

 

Und doch wiegt die Sehnsucht nach Nähe, nach Liebe, nach Aufgefangenwerden gleichauf.

Der Versuch mich über ihn wieder wahrnehmen zu können?

 


17. August, Donnerstag

1:00

Das lustige Kortisonspuken nimmt seinen gewohnten Lauf. Starkes Herzklopfen, keine Müdigkeit, die Seele am Rotieren und vor Schmerz am Schreien. Wie absurd das auch klingt, Gefühllosigkeit kann weh tun.

1:45

Meine Augen brennen etwas bei diesem dämmrigen Licht. Ich ziehe in Erwägung mir einen Kakao zu gönnen, angesichts der Stunden die vor mir liegen vielleicht auch eine Kanne Grüner Tee Mango-Zitrone. Mein trockener Gaumen stimmt mir eifrig zu.

Im Bett, während der zweistündigen Schlafversuche, überkam mich die wahnwitzige Idee, meiner Blutgier auf verletzungsfreie Weise nach zu gehen. Doch, so wie es für meinen Körper typisch, kam nichts aus dem Venflon, kein Tropfen Blut. Ich bezweifle auch, dass er heute noch funktioniert, mal ganz abgesehen von der bescheuerten Aktion. Da die restlichen Flecken auf dem Arm vor der heutigen Therapie verschwinden müssen, versuchte ich Blutspuren auf den Kratzern mit einem Desinfektionstabs abzurubbeln. Es brannte derb, was mir wieder mehr als recht war. Krank!

Sebastians zynische Bemerkungen meinen Arm betreffend sind wie eine Bestrafung dafür, dass es mir ohnehin schon schlecht geht. Hilflosigkeit hin oder her, einen Gefallen tut er mir nicht damit. Ich fühle mich unglaublich ernst genommen, wenn man mich auslacht... Obwohl ich nicht Mal weiß, wie man daran auch nur einen Funken Witz entdecken kann. Ist es lustig? Hab ich was verpasst? Hier erstickt sogar mein tiefschwarzer Sarkasmus auf halber Strecke.

2:00

Bereits eine Stunde um und keine Ahnung, wo die Zeit geblieben ist. In der Kakaotasse? Der Tee zieht, es ist 4°C wärmer als gestern Nacht, draußen tiefschwarze Himmelssuppe, nur die Solarlämpchen erleuchten die Terrasse ganz schwach, der Tee ist nun fertig und ich hoffe, ich wecke Sebastian nicht. Vielleicht vertrage ich auch einfach seinen Humor, bzw. Humor als solchen in dieser Situation nicht. Es bleibt in Momenten wie gestern vor einigen Stunden nichts Lebendiges, nichts Freudiges zurück. Wie also Spaß ertragen ohne sich selbst zu verraten?

Während ich mir eine Tasse einschenke fällt mir ein, dass ich meinen Knien noch eine Runde Rheumaemulsion versprochen hatte, damit sie dann später im Krankenhaus nicht zwischen Strümpfen und kurzem Kleid gefleckt nach Aufmerksamkeit strahlen, bzw. mit dem Kleid um die Wette rot sind.

Die Zeit saust wieder an mir vorbei und ich frage mich, ob sie das nicht tagsüber mal machen könnte? Es ist so wie im Dunkeln laufen, die Strecken und Anhöhen verlieren ihren Schrecken und lassen sich ungesehen locker meistern.

2:30

Zaghaftes Gähnen, doch es ist schon wieder mit wenigen Zeilen eine halbe Stunde verstrichen. Merke ich schon einen Unterschied vom Kortison? Nein. Die Beine sind noch tauber als vorgestern, doch es ist zu früh, der Körper zu müde, um objektive Diagnosen zu stellen. Irgendwelche „kranke“ Menschen treiben sich um 0:51 Uhr auf meiner HP rum. Ist es da nicht meine Aufgabe zum Schlafe zu ermahnen?

2:45
Ich mache ein paar Fotos und darf voller Stolz feststellen, dass ich einfach scheiße aussehe. Aber um die Uhrzeit interessiert das ja für gewöhnlich niemanden. Bin ich so fett oder verzerrt sich mein Selbstbild erneut?

3:00

Was so ein bisschen Licht doch hermacht...

3:15

Nanu? Eine Mail beantwortet und da ist doch zum ersten Mal keine Zeit verstrichen. Meine Haare sind vom Korti speckig und eklig. Aber wie Haare waschen ohne Sebastian aus dem Schlaf zu reißen? Draußen? Bei 14°C? Ich werde bei meiner letzten Tasse Tee, die mir mittlerweile wieder den Magen umdreht, über diese Option nachdenken. Ah, ich mach es vorm Haus, dann brauch ich nicht über den Flur humpeln und die Haustür knallen.

Nein, kein Tee mehr. Wasser aufsetzen, Waschnussshampoo holen und raus auf die Terrasse. Nun noch ein passender Gummihandschuh für meinen teuflischen Plan und ab in die Pampa, Räuber verscheuchen. Haare waschen um halb 4, nicht schlecht. Bzw. ich, morgens, oder sollte ich sagen nachts um halb vier auf der hell beleuchteten halbkreisförmigen Klinkerterrasse, inmitten der Altweibersommerwiese, sozusagen auf dem Präsentierteller für die im Westen liegende Hügelkette, im zarten Schein des abnehmenden Mondes, der dort im Osten über unsrem Wäldchen steht, oben ohne und mit selbst gepanschtem Waschnussshampoo im Haar. Fantastisch. Und erfrischend. Wenn man sich nur die Gedanken klar waschen könnte...

Also steht meinem glanzvollen Auftritt in der lila Neuro nichts mehr im Wege.

3:45

Der Venflon auf meinem rechten Handrücken ist nur mäßig begeistert von dem Kurzausflug in den rosa Spülhandschuh. Schmerz genießen oder fachfrauisch entfernen? Jetzt haben wir den Salat, ich aufgekratzt und quirlig, Korti1 sei Dank, und so wie es nun Mal ist wenn eine Kanne Grüner Tee geleert und der Abschiedsschmerz gar grausig, kommt das Verlangen, noch eine zu Kochen. Geht sich das bis 8 mit den einzuplanenden Toilettengängen aus? Ne, besser nicht, sonst sieht neben meinem Gesicht der Sitz des Kleides auch noch scheiße aus.

Dürsten. Welch Pein.

4:00

Ich hasse die erste Kortisoninfusion. Ihr ist es scheißegal wie ich mich fühle, was ich treibe. Sie bügelt über das, was mich im Moment ausmacht, kaltschnäuzig hinweg und macht mich unerträglich aufgedreht, um nicht lächerlich zu sagen, und heuchelt vor, dass es ein Davor nie gegeben hat.

Doch bereits Kortison 2 kann diesen verlogenen Zustand ins Wanken bringen. Korti 3 fällt nicht weiter ins Gewicht, weil sie mich wieder dort hinbringt, wo ich losgefahren bin.

4:15

Haarerubbelnderweise wird die erste Tablette eingeworfen, dann den Rest in eine Decke gewickelt, mehrfach mit dem Zugang gegen den Tischrahmen geknallt damit sich das erneute Stechen auch lohnt und wieder Platz genommen.

Noch fast 4 Stunden bis mein Taxi kommt. Eine kleine Nebenrechnung stellt dann doch eindrucksvoll dar, dass ich noch nicht mal die Hälfte der Zeit hier zubringe. 3 Stunden bis Sebastian aus dem Bett gekrabbelt kommt und ich Gerri ausmache und erneut liebevoll und stoßfest verpacke. Die Haare trocknen allmählich, und eigentlich kein Wunder, denn mein Gesicht glüht kortisontypisch. Und wer hat eigentlich festgeschrieben, dass mensch zu solch unheiliger Zeit Hunger bekommt? Jegliche Streifzüge in die Kisten, Dosen und den Kühlschrank lohnen nicht, es ist ja doch nichts im Hause. Noch ein Kakao? Ein halbtotes Margarinebrot? Ein Schüsselchen Schokomüsli? Alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Mh.... Griesbrei... Griesbrei? Neee... Kortisonstoßtherapie ist seit jeher gleichgesetzt mit Hungern. Und Traditionen, zudem wenn schon so uralt, dürfen nicht gebrochen werden.

4:35

Oder doch? Mein kleiner Freund auf der rechten Hand meckert immer noch rum. Die Stelle wo der Schlauch in die Haut übergeht, fühlt sich schmerzhaft matschig an. Ich werde ihn entfernen, ich hab keine Lust mich heute quälen zu lassen, und außerdem hab ich das doch schon SOO lang nicht mehr machen dürfen. Hehe... Das Haar trocknet feuchtfröhlich vor sich hin und ich blicke einer gut sitzenden und vor allem trockenen Frisur mit ziemlich viel Optimismus entgegen.

5:00

Schluckauf- da wird doch nicht jemand an mich denken?

5:15

Immer noch Schluckauf und es beginnt zu dämmern.

5:20

Die Dämmerung schreitet unheimlich schnell voran. Haare bürsten, eine Tasse Kakao in der Mikro ihre Runden drehen lassen, dabei die Augentropfen ins Spiel bringen und dem ersten Vogel oben auf dem Hügel im Wäldchen beim Schimpfen zuhören. Eine Meise, wenn mich nicht alles täuscht, sekündlich wird es heller und heller, mein Hals kratzt, weil er noch mehr Tee möchte und wieder ausgiebiges Gähnen durchsetzt von Schluckauf, die Haare nun so glatt, dass die Kopfhörer zu Halshörer werden und noch extra Aufmerksamkeit fordern. Achja, der Venflon. Scheiße, der Alkotupfer liegt noch drüben aufm Regal. Wieder entnervtes aus der Decke wickeln und mich mit Krachen und Knirschen erheben. Ebenfalls fachfrauisch wird mit der linken Hand der Tupfer auf den Schlauch gedrückt während die guten alten Beißerchen das Pflaster samt Venflon vom Handrücken ziehen. Ah! Hab ich’s mir doch gedacht! KEIN Blutsturz weit und breit, aber eine dicke, blaue Beule, bzw. eine dick geschwollene Vene. Ich und bluten? Dass ich nicht lache! Bis ich wieder zur Tasse greife ist es sozusagen schon so gut wie hell und der schöne Kakao kalt. Ein Hauch von Nebel liegt über den Hügeln und den Wiesen. Den Morgen kommen sehen, wie oft versäumt man das in seinem Leben? Noch über eine Stunde bis Sebastian aus dem Bett fällt, schreckbedingt versteht sich, dank der Lautstärke des Radioweckers. Die Toilette ist für meinen Geschmack zu selten frequentiert, wenn das mal nicht in einem Desaster im Rettungswagen mündet. Der Morgentau beschlägt die Scheiben der Terrassentüren, der Himmel scheint blau zu werden. Also bleibe ich bei meinem Vorhaben das Kleid heute Gassi zu führen und stolz ein Stückchen Läuferbeine, zwar humpelnd aber immerhin, zu präsentieren.

6:00

Schön langsam aber sicher könnte ich mich an den noch übrig gebliebenen Chemiemüll machen. Eine Spritze für die gefäßkranke Oooomaaa, eine Pantoloc für die Magennerven der Maaamaaa... Und doch noch eine Stunde bis ich mich anziehen und fertig machen kann. Ächz. Und doch habe ich nicht das Gefühl, dass bereits 5 Stunden hinter mir liegen (exklusive der Zwei, die ich mit Einschlafen verbracht habe). Die Nebelkrähen ziehen vorüber und rufen sich zu einem großen Schwarm zusammen. Abstecken, wo was wann zu holen ist. Und jetzt, da es Tag ist, könnte ich schlafen. Und mir ist kalt.

6:15

Soeben treffen die ersten Sonnenstrahlen auf die Baumspitzen auf dem westlichen Hügelkamm. Der Tag beginnt. Die Katze der Nachbarin kommt aus meinem Garten und schleicht den gemähten Pfad folgend in die Wiese vorm Haus hinein. Spinnennetze, taubehangen, glitzern zwischen den gelben und braunen Gräsern und verwelkten Blumen.

6:30

Meine Zotten sind rechtzeitig fertig geworden. Ich sollte mich endlich erheben, die restlichen Medikamente unter Schluckauf konsumieren und mein meloniges Lunchpaket zurecht machen.

9:50

Mit der „Discorettung“ ging es im ziemlichen Tempo gen Oberwart. Ich starrte gleich nur nach draußen, damit mir nicht schlecht wird und vor allem weil ich keine Energie mehr hatte, mir ein Gesprächsthema aus der Nase zu ziehen.

Der Schlafentzug macht sich bemerkbar. Ich bin zittrig und vollkommen überdreht, gefolgt von lethargischen Schweigephasen.

 

Arg. Wieder der linke Arm. Doch auch dieser Arzt gab kein Kommentar ab, obwohl ich, als der den Strumpf runter schob, das Gesicht verzog. Auch er machte Witzchen und lockerte die Situation auf. Und mit Hilfe von Nitrospray hatte er sofort Erfolg. Sogar etwas Blut für den Borreliosetest war drin. Nagut, wir einigten uns nach diversen Runterstufungen der Euphorie darauf, dass es Blutkörperchenweise des Wegs, bzw. ins Fläschchen getropft käme. Die Sache hat nun nur einen Haken: Ich sitze hier wie auf dem Präsentierteller (schon wieder?). „Ja, treten sie näher! Nur heranspaziert! Keine falsche Scheu! Sehen sie sich dieses Spektakel an, bewundern sie diese einzigartig bescheuerte, junge Frau! Narben und Schnitte einmal anfassen kostet NUR 50 Cent! Treten sie näher! Das ist was für die ganze Familie!!!“ Der Venflon einmal so elegant quer auf die zerschnittene Hautstelle geklebt, dass das Thema Strumpf und Verbergen die Zeit fürs Nachdenken nicht wert ist. Der lange Flur voll mit wartenden Patienten, die nur darauf brennen, dass etwas geschieht, dass es etwas zu sehen gibt. Sie kamen voll auf ihre Kosten, als ich an ihnen vorbei musste, um an meinen Stammplatz zu gelangen. Wie sie stierten, wie sie glotzten. Hoch und runter und wieder hoch, um am Arm hängen zu bleiben, dann in mein Gesicht und dann wieder zum Arm. Was wäre geschehen, wenn ich plötzlich BUHH gemacht hätte? Die Schnitte von gestern blutrot unterlaufen scheinen leuchtend Reklame zu machen: Glotzt mich an! Glotzt mich an! Glotzt uns alle an!

Ach, mir ist es ja egal, es war klar, dass das so kommt, wenn ich es schon so „provokant“ „herausfordere“! Und mich trotz 3 Tage Therapie nicht im Griff habe.

Was hab ich für ein Glück: Abgesehen von der misslichen Position des Zugangs, nicht nur dass ich bis 13 Uhr hier sitzen darf um auf die Rettung zu warten, was Gerris Akku nicht mitmachen wird... Nein, denn auch der Akku von der Maus scheint den Geist frühzeitig aufzugeben. Und Sebastian hat mir nicht mehr verraten, wie ich auf Touchpad umstellen kann. Na super

Ach, ich glaub, das ist nicht mein Tag. Pah, sind ja nur noch 3 Stunden.... Kotz! Mal tropft das Kortison, mal tropft es nicht. Kann bitte noch irgendetwas schief laufen? Ja? Wär das möglich? Der Tag ist ja beinahe prädestiniert um auszuticken. Ich ertrage mich selbst nicht, diese Plapperfreudigkeit ist schrecklich. Ich HASSE es, aber es lässt sich nicht steuern. Es ist beinahe so schlimm wie die bald folgende Depression. Aber, wie tief sollte ich denn noch sinken, großartig mehr ist kaum noch möglich. Und dann meine Haut, bereits nach der ersten Infusion ein Streuselkuchen. Mein Körper hat wohl den Braten gerochen, dass es diesmal wieder nur 3 Portionen gibt und legt nun gleich nach der Ersten los mit einem bunten Spektrum an Nebenwirkungen. Hossa!! Ich HASSE dieses Zeug, und bin doch abhängig davon.

Eine Stunde ist vorüber, doch die Flasche erst halb leer. Und der Akku bereits auf 50%. Arg...

Abend

Die Akkukalkulationen hätte ich mir stecken können. Der letzte Satz wurde lediglich von einem leisen „Fuck..“ meinerseits gefolgt, denn eine Beule und ein stechender Schmerz sprachen eine eindeutige Sprache.

Und was dann folgte, überstieg selbst meine Vorstellungskräfte. Klar, Klassiker, dennoch mit diversen Sahnehäubchen gekrönt. Ein Venensuch- und Stechdesaster. Ich äußerte kurzfristig meine Angst um Gerri, der doch noch draußen stand, so allein. Was, wenn da so ne kriminelle Omma des Weges schlurft... Pensionisten hätten ja so viel Zeit, die seien nicht ganz koscher. Er pflichtete mir bei, dass diese Rollstuhlommagangs nicht zu unterschätzen seien. Ich machte ihm den Vorschlag, dass er sein Aufnahmegespräch führen solle, während ich Gerri in Sicherheit brächte, mir ein paar Liter Wasser in den Organismus schütte und den Rest blanchiere. Eine geschlagene Dreiviertelstunde hing ich über dem Waschbecken, die Arme in kochend heißes Wasser getaucht und vernichtete dazu einen Liter Wasser nach dem andren. Irgendwann konnte ich nicht mehr stehen und hing schon fast mit dem Gesicht im Wasser. Ab und an warf der Arzt, der im selben Untersuchungsraum das ausführliche Aufnahmegespräch führte, einen skeptischen Blick zu mir herüber, wie ich da abgeschnitten vom restlichen Raum im Waschkabuff hing und ermahnte mich, nicht abzusaufen. Irgendwann begann ich lethargisch mit dem Kopf gegen den Wasserhahn zu schlagen, aber es passierte immer noch nichts. Dann, nach einer Ewigkeit holte er mich aus meinem persönlichen Planschalptraum, die frischen Wunden am Arm waren aufgequollen und sahen unheimlich breit aus. Ich meinte nur, um meinem Leid geringfügig Ausdruck zu verleihen, dass ich nun mittlerweile den Freischwimmer glanzvoll bestanden hätte. Stechen, Stechen, Stechen, Bohren, Rumstochern, wieder Nitrospray, Treffer. Der Arzt war bereits sichtlich entnervt und ich nur depressiv. Ich meinte nur, jetzt hätte ich mir für heute Abend eine Extraportion Krampflöser verdient.

Die letzten Reste vom Kortison blubberten im Sausetempo in meinen Körper und ich war kurz vor 13 Uhr, dem ausgemachten Abholtermin, fertig. Doch da kam niemand. Um 13:30 war immer noch keine Rettung in Sicht. Mittlerweile hing ich auf einem Stuhl, den Oberkörper auf die Tasche auf meinem Schoß gelegt. Ich konnte nicht mehr. 13.50, immer noch keine Rettung, Schwester Hedi rief die Jennersdorfer Dienststelle an, die meinten, sie kämen sofort. „Was IMMER das heißen mag...“, zwinkerte mir Schwester Hedi bemitleidend zu. Keiner kam. Also fuhren die tatsächlich grad in Jennersdorf los, was fast ne Stunde dauert. Meine zuständige Ärztin, die ich nun jeden Montag telefonisch bemüht hatte, setzte sich einen Moment zu mir und fragte mich, wie es mir denn ginge. Ich ratterte wie von Band die alte Litanei runter. Sie warf einen Blick auf meinen Arm, stand auf und meinte, sie käme gleich wieder. Warten, keine Rettung, dann erschien sie erneut und rief mich in ein Untersuchungszimmer. Sie fragte mich noch mal, wie es mir denn ginge. Ich: „Naja..“.

Sie sah mir tief in die Augen und meinte: „Glücklich sind sie nicht, hab ich recht? Das ist doch alles nur gespielt, diese Fröhlichkeit ist doch nicht echt...?“.

Bumm! Treffer, versenkt!

„Ich hatte die Schnittwunden letztes Mal schon gesehen, das war auch der Grund, warum ich das mit dem Kortison hinausgezögert hatte, weil ich nicht sicher war, ob es nicht die Psyche ist, aber ich wollte sie nicht so direkt drauf ansprechen...“

Ich entgegnete: „So was hab ich mir schon gedacht, als sie mich letztes Mal eingängig fragten, ob ich so unter Druck stünde...“, und lächelte etwas schmerzverzerrt.

Sie stellte ein paar Fragen, ich erzählte von meinem Absturz letzte Woche, von meinen Ängsten hinsichtlich einer erneuten Schwangerschaft. Es tat gut, ich fühlte mich aufgehoben. Dann machte sie mir den Vorschlag, ob ich mich nicht bei einem Psychiater vorstellen wolle, morgen schon, vor oder nach der letzten Therapie. Aufgehoben, aufgefangen im freien Fall. Ich war ihr unendlich dankbar.

 

Dann, um 14:45 kam die Rettung. Ich schlief im Wagen fast ein. Dann, zu Hause, um 15.30, sank ich fast bewusstlos auf die Couch und dämmerte halb wach, halb schlafend vor mich hin. Ich kann nicht mehr, ich bin fertig. Das war VIEL zu VIEL.

Hätte der Tag dann doch nicht so geendet, der Verspätung der Rettung sei Dank, ich hätte mich wieder verloren und die ausgewaschenen Souveniere erneuert, um ein Stück weit Frieden zu finden.


18. August, Freitagvormittag

9:37

Ich hänge. Zumal ich dachte, nicht hier anzukommen. Um 8 kam keine Rettung. Um 8:15 war sie immer noch nicht in Sicht. Also stapfte ich um 8:20 die Einfahrt wieder hoch, um irgendwen anzurufen und nachzufragen, ob man mich denn schon wieder vergessen habe. Aber natürlich funktionierte das Telefon wieder nicht. Just in diesem Moment, um 8:25 kamen sie die Einfahrt mehr recht als schlecht hoch gerumpelt. Der wieder zum hinten Sitzen verdonnerte Praktikant entschuldigte sich dafür, dass wir heute nicht mit dem Discobus fahren würden. Ich döste wieder vor mich hin, so ist die lange Fahrt doch besser zu ertragen. Der Fahrstil war wieder Mal mehr rasant als galant, um 9:05 waren wir schon am Ziel, obwohl ich für die Strecke unter Einhaltung aller Geschwindigkeitsbeschränkungen mindestens 50 Minuten brauche. Über die daraus resultierende Differenz sollte man nicht eingängig nachdenken... Schwester Hedi begrüßte mich freudig und fragte: „Geht es dem Venflon noch gut? Ist das wegen der Infusion?“, sie zeigte auf den Verbandstrumpf: „Was ist das?“. Ich flüsterte nur leise: „Das hier ist nicht salonfähig.“ Sie sah mir ernst ins Gesicht, rubbelte kurz mit der Hand über meine Schulter und meinte nur mit besorgtem Tonfall: „Na, geehhh...!“.  Der Zugang war mir wohl gesonnen und so blubbert es wieder anstandslos in meine Vene. Beim Nachjustieren der Tropfmenge rutscht der Kopfhörer aus der Buxe und für einen Augenblick hallt das Geschrei von Kittie durch die heute doch recht ruhige Ambulanz. Mir steigt die Schamesröte ins Gesicht während ich hastig die Lautstärke von Sehr laut auf Mute runterdrehe. Warten, wieder Warten, darauf, dass die Dame von der psychiatrischen Ambulanz im 4. Stock zurückruft. Kurzausflug in die Damentoilette, die heute sogar mit Lektüre bestückt ist. „Antibiotika und Antiinfektiva“, ah, ja, sehr interessant. Auf dem Rückweg läuft die Prozedur, wie das Wort Rückweg schon erahnen lässt, verkehrt rum und Blut beginnt die Flüssigkeit aus dem Schlauch zu verdrängen. Als ich wieder sitze und alles an seinem angestammten Platz ist, läuft es aber wieder normal. Wie oft hat ein Venflon nicht schon seine Funktionstüchtigkeit auf dem Weg ins Klo eingebüßt.

Abend

Nach nur 50 Minütchen war die letzte Infusion beendet, allgemeines Erleichterungsaufatmen. Dann die Fahrt mit dem Lift hoch in den 4. Stock, Neuland wird betreten. Ein seltsamer Ort, diese Psychiatrie. Um 11, wie angekündigt, war der Abholdienst da, ich aber noch nicht dran gewesen. Nun mussten sie die 30 Minuten auf mich warten, die ich heute morgen auf sie gewartet hatte. Das Gespräch verlief eher unproduktiv, abgesehen davon, dass der Arzt türkischer Herkunft tatsächlich rot-orange Haare hatte, wie von meiner Neurologin schmunzelnd angemerkt wurde. Er war etwas hilflos, da er keine Daten von mir in der Hand hatte. Um das Gespräch in die Gänge zu bringen fragte er mich nach dem Strumpf an meinem Arm, ob das wegen der Infusion sei. Ich entgegnete, dass das der Grund wäre, warum ich hier sei. Weshalb schneiden sie sich, um zu betäuben?“. Ich nickte. Dann riss ich in ein paar Worten meinen psychisch geschädigten Werdegang an und erläuterte meinen derzeitigen instabilen Zustand. Er stellte so Fragen wie ,,Schneiden sie sich mit einem Messer?“, oder „Haben suizidale Handlungen stattgefunden“. Er erzählte mir von ein paar Medikamenten, die einen um den Impuls der Selbstverletzung zu dämpfen und die andren gegen die Depressionen. Am Schluss fragte er mich noch, wie ich mich nun fühlen würde, besser oder schlechter. Ich meinte nur, es würde keinen Unterschied machen. „Haben sie schon Pläne für heute Abend, um den Impuls zu umgehen?“ Letztendlich verließ ich das Besprechungszimmer mit einem Infoblatt und einer Broschüre über den Psychosozialen Dienst in Jennersdorf in Händen und dem Vorschlag, da mal anzurufen und mir einen Termin geben zu lassen für die Tage, wenn er oder sein Kollege Vorort wären.

In der Rettung durfte ich dann quer sitzen, mein Magen rebellierte, vor allem als irgendwer ein Wurstbrot auszupacken schien. Zu Hause überkam mich wieder diese Unruhe und ich hetzte ums Haus, um wenigstens Kleinigkeiten die der Wind angerichtet hatte, in Ordnung zu bringen. Mit den Kopfhörern in den Ohren fiel ich dann im dunklen Schlafzimmer aufs Bett, blieb da liegen, gab mich der Musik hin und sah mich wieder sterben. Immer und immer wieder. Endloses Starren auf  meinen linken Arm, der vor mir auf dem Bett entblößt lag und sah mich bluten.

 

Um 18 Uhr kam ich aus dem Bett gekrochen, Sebastian war bereits wieder von der Arbeit zurück und wir gönnten uns eine eiskalte Waschung unter unsrer Freiluftdusche, mit Waschnussshampoo versteht sich. Trocknen in den letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Abends auf der Terrasse. Erschöpft und leer. Wieder Fotos machen, um im Ansatz verstehen zu können. Aber mein Gesicht bleibt leer.

Ein wunderschöner Abend, und doch wieder ein Stück weit verloren.

 

 


19. August, Samstagvormittag

Irgendwann nach zwei eingeschlafen, nach vier Stunden wieder wach und nun geladen wie eine Atombombe, die jede Sekunde hochgehen könnte. Ich bin auf 200, gestern Abend schon hätte ich beinahe aus Reflex ausgeholt. Der Körper, nach drei Tagen Kortisonüberschuss irritiert, produziert kein körpereigenes Kortisol mehr, Entzugserscheinungen, die sich in erster Linie in Aggressionen entladen. Wo ist die nächste Party? Ich würde für „Bombenstimmung“ sorgen! Permanentes Giftspritzen und gehässige Zischereien aus meinem Munde. Ich bin entnervt, ich bin am Abkotzen, ich könnte die Wände hochgehen. An das geplante Laufen am Montag kann ich jetzt im Moment gar nicht denken. Nag Champa brennt und räuchert die Bude aus. Der Versuch, mich irgendwie auf Betriebstemperatur runterzuholen. Beruhigung kann ich noch nicht fühlen. Solange ich mich im Zaum halte, niemand anruft, niemand vorbeikommt, niemand etwas von mir will, solange mich die Welt da draußen in Ruhe lässt, kann ich meinen Jähzorn in mich rein fressen, ohne dass andere zu Schaden kommen. Runterschlucken und versuchen nicht auszuticken. Streuselkuchen Klappe die Zweite steht auf dem Programm und ich bemühe mich zum ich weiß nicht wievielten Male, mir nicht ins Gesicht zu fassen um Schlimmeres zu vermeiden. Die Außentemperatur passt wie die Faust aufs Auge zu der Giftsuppe die in meinem Magen brodelt. Gegen die Wand schlagen, am besten gleich mit dem Kopf, immer wieder, bis es weh tut, bis es blutet, bis ich nicht mehr denke, nicht mehr fühle. Ich kann nur hoffen, diese erneute Schinderei macht sich am Ende bezahlt, ein Silberstreif am Horizont ist noch außer Sicht.

Will nichts essen, will nicht trinken, nicht atmen, mich nicht spüren, nicht denken, einfach aufhören zu existieren.

 

Bleibe aber unbeweglich sitzen, hoffe, dass ich nichts kaputt mache, dass ich niemanden verbal verletze und würge alles runter, bis der Magen an dem Giftmüll zu Grunde geht.

 

Die Ressourcen meines Schimpfwortrepertoires potenzieren sich minütlich. Heute bin ich mir für nichts zu schade.

 

Auf Starre folgt Wahn. Sicherlich ein Schauspiel sondergleichen mich aus sicherer Entfernung dabei zu beobachten, wie ich im Haus wie getrieben Amok laufe. Alles kotzt mich an, alles macht noch unrunder. Mit dem Staubsauger im Schlepptau wusle ich wie bekloppt einmal quer durchs Erdgeschoss. Die Beine brechen unter mir zusammen, Stillstand und weiterhin Unzufriedenheit. Ich hasse es, ich hasse es, ich hasse ES!!!!

Nachmittag

Auf dem Hockerensemble vor der Terrassentür mit Herzrasen zusammengebrochen und liegen geblieben. Schlafen, einfach nur schlafen. Erwacht mit einem unwahrscheinlichen Brand auf Gemüsesuppe. Mit geschlossenen Augen am Herd stehen und meinen Gelüsten nach etwas Gesundem, nach all dem Hungern,  nachgeben und im Halbschlaf schälen, schnibbeln, rühren... Satt, aber nicht glücklich eine eiskalte Haarwäsche nehmen, draußen, mit Regenwasser aus der Tonne und Waschnussshampoo. Aber wach bin ich immer noch nicht. Das System Mensch kollabiert, es kracht und klappert im Gebälk, die Hände am Zittern. Wo bleibt der Gnadenschuss? Der eigentlich köstliche Tee schmeckt unter diesen Umständen auch nur bescheiden. Ich könnte wieder schlafen, aber ich lasse mich nicht. Der Himmel zum Glück seit Stunden zugezogen und unser Lieblingsnachbar hat aufgehört Rasenmäher und Moped den beschissenen Hang hoch und runter zu quälen. Das Telefon hab ich vorhin schon ausgesteckt. Ich will nichts von andren Leuten hören, die irgendwie irgendwo mit dem oder der verwandt sind, und da oder dort wohnen, neben dem oder der und gerade diesen oder jenen Krebs haben.... Geschweige denn welche Haarwurzel heute Probleme bereitet, eine 5 Seiten lange Abhandlung über den Schmerz im kleinen Zeh links oder weiß der Teufel was. NEIN, NEIN, NEIN... nicht heute, und nicht morgen. Das Telefon bleibt vom Netz. Solange, bis ich mich wieder besser fühle, wieder „funktioniere“, für alle andren „reibungslos laufe“, wieder alles in Ordnung ist, bzw. zu sein scheint. Und der Schein reicht aus. Alles andere, was darunter verborgen bleibt, spielt in diesem gesellschaftlichen Zusammenspiel keine Rolle. Die Maske aus dem Schrank holen, etwas abstauben, vielleicht auch auf Hochglanz polieren und mich wieder einfinden in diesem Theater, dass ich doch unter uns gesagt so unwahrscheinlich leid bin. Jetzt, dank Müdigkeit und etwas weniger Sprengstoff in mir, finde ich zurück zu meine Gedanken und zu den Bildern im Kopf. Doch ich bin zu erschöpft um sie mit Gefühlen auszukleiden. Vielleicht ist das auch gut so. Kein Austicken, keine Wunden, keine Narben. Einfach nur großes NICHTS und schlafen.

Abend

Allmählich erwachen die müden Geister in mir, es könnte wieder eine schlaflose Nacht werden. Die Suppenreste verspachtelt, aber sogleich zum Würgen verdammt. Ich verbiete mir zu kotzen, genieße die Übelkeit, den widerlich süßlichen Geschmack im Mund, das Druckgefühl im Magen und den viel zu warmen Abend. Und das ist erst der Anfang. Vielleicht sollte ich bereits morgen einen ersten Laufversuch wagen, was hab ich schon groß zu verlieren?

Ich mache mir Sorgen, denke angestrengt nach, was zu noch mehr Sorgen führt, was wiederum die Unruhe schürt. Und so weiter und so fort. Kann man dieses menschliche Vehikel nicht endlich zum Anhalten bringen? Abschalten? Aus dem Verkehr ziehen? Wenn nicht mal Tee trinken mehr Freude bereitet, muss das Leben wahrlich verwirkt sein. Und doch ist all das hier nur ein weiteres Bindeglied in einem schier unendlich scheinenden Auf und Ab, zum 16. Mal dieser Entzug, diese Entgleisungen der Körperfunktionen. Zahlen lesen sich so leicht. Doch was steht dahinter? Hinter jeder einzelnen Eins? Das Davor, das Dabei und das Danach? Die einzelne Zahl ist dem Gesamtkunstwerk nicht würdig genug.

Die Sonne geht unter und lässt mich mit meinen Zweifeln allein. Starr, und doch rastlos.


20. August, Sonntagnachmittag

Gestern Nacht rannte ich in der Küche im Kreis. Konnte nicht zur Ruhe kommen, konnte nicht mehr gerade stehen. Ich rannte und rannte und fragte mich, ob zwischen einem Kortisonpräparat und dem anderen ein so immenser Unterschied im Bezug auf die Nebenwirkungen möglich sei. Solumedrol, hatte ich bis jetzt noch nie, also wäre ein Schuldiger gefunden. Rannte auf und ab, hin und her. Heute morgen bekam ich keine Luft und ich ahnte bereits im Bett warum. Ein Mondgesicht glotzte mich beim Zähneputzen aus dem Spiegel an. Zumindest die Aggressionen haben sich etwas gelegt. Der klitzekleine Spaziergang zerschlug meine Pläne morgen mit dem Laufen zu beginnen. Ein unangenehmer Schwächeschmerz zieht sich nun durch meine Gliedmaßen, alles scheint sich aufzulösen. Mir ist speiübel und der Schädel am Hämmern und natürlich steigen gerade jetzt die Temperaturen wieder enorm an. Alles in Allem ein SUPER Tag für kortisonbedingte Entzugserscheinungen und den Auswüchsen des Schubes. Wieder hinlegen und schlafen? Doch die Unruhe beginnt erneut an mir zu nagen. Ich weiß nicht mehr wohin mit mir...

Abend

Meine Mutter war kurz hier: „Seit drei Tagen versuche ich euch anzurufen!“. Vorwurfsvolle Blicke. Ich hänge mehr in der Tür als dass ich stünde. Ein paar Worte werden hastig über die Terrasse geworfen, ich in Nöten, die Augen offen zu halten. „Geht es dir so schlecht?“, wieder dieser schreckliche Tonfall.

 

Und es ist seltsam, aber jetzt ist er wieder da, dieser Drang mich aufzuschlitzen. So intensiv, dass ich mir gut vorstellen kann, ihm tatsächlich nachzugehen. Die Gedanken nehmen ganz plötzlich Farbe an, werden lebendig, sind mir ganz nah. Die Zahnräder des alten Systems beginnen zu greifen. Ich fühle mich schuldig.


21. August, Montagnachmittag

Der Tag scheint verloren. Nach dieser Nacht, in diesem panischen Zustand, halb wach, halb schlafend. Die Realität begann sich aufzulösen, es gab keinen Halt mehr, nichts Greifbares. Und alles woran ich denken konnte war, dass ich es gewusst hätte, immer schon vorausgesehen hatte, das es so weit kommen würde. Der Tag begann wie jeder andere auch, und doch war nichts mehr wie vorher. In mir dumpfe Stille. Ich vermag das Schauspiel nicht aufrecht zu erhalten. Gestern Abend schon hatte ich mich verloren und jetzt gerade scheinen die letzten Reste meiner Existenz in dieser Welt zu sterben. Nichts bereitet Freude, all die Dinge um mich bleiben unerledigt, scheinen bedeutungslos und mir so fern.

Mit dem Prospekt des PSD saß ich am Esstisch und versuchte darüber nachzudenken nun zum Telefon zu greifen und dort anzurufen. Ich scheiterte. So wie ich an allem scheitere, was sich mir zur Zeit in den Weg stellt. Dann kam Besuch. Sie erzählte und erzählte, ich wurde erneut mit Leid zugeschüttet. Als sie wieder ging war das dumpfe Gefühl in mir noch stärker, genährt von all dem Gehörten. Je mehr man auf mich einredet, desto leerer werde ich.

Keine Gefühle, nur Gedanken, die weiterhin von Erlösung zu erzählen wissen.

 

Die Sonne klärt den Himmel auf und ich versuche mir darüber klar zu werden, was ich möchte. Verzweifelt kämpft mein Verstand um Pläne und Strategien um dem hier zu entgehen. Aber ein Teil von mir ist schon so weit entfernt, er kann es nicht mehr hören. Das dumpfe Gefühl im Bauch drückt und mir wird schlecht.

Was erst fern schien, ist mir doch näher als ich dachte.

 

Aber es bringt keine Heilung mehr, nur oberflächlich betäubt es den doch viel tiefer gehenden Schmerz. Ein Pflaster über eine große Fleischwunde kleben. Es hilft nicht, kann mich damit aber nicht abfinden, klammere mich an mein Leben und versuche es auf diese Weise immer und immer wieder. Ein kurzer Spaziergang bringt auch nicht mehr als noch massivere Schmerzen und Zweifel an meinem Dasein.

Wäre ich drogenabhängig, würde ich mir jetzt einen Schuss verpassen.

Wäre ich Alkoholiker, würde ich mir jetzt ordentlich einen hinter die Binde kippen.

Aber ich bin doch ein vernünftiger Mensch, ich funktioniere, was bleibt mir schon...

Ich benötige keinen Arzt der mich darüber aufklärt, dass ich depressiv bin. Und auch niemanden, der mich davon überzeugt dass es so nicht weitergehen kann. Aber wieso eigentlich nicht? Wen kümmert’s?
Soviel Intelligenz wohnt mir gerade noch inne um selbst zu erkennen, wie ich mich verkrieche, mich ausblende aus dem gesellschaftlichen Leben, mich selbst davor behüte noch mehr Kummer zu ernten in dem ich meinen Körper scheitern sehe oder meine Seele von andren zumöhlen lasse.. Es ist doch letztendlich nur eine Art von Selbstschutz.

Kann es nicht einfach ein Ende nehmen?

Abend

Dieser Wahn findet kein Ende.

Packungsbeilagen durchstöbert.

Die Broschüre des PSD liegt immer noch neben dem Notebook. Gelbe Schrift auf grauem Grund; soll diese Kombination Hoffnung und Hilfe verheißen? Auf den plötzlichen Wolkenbruch folgt nun wieder abendlicher Sonnenschein.

Gelangweilt oder haltlos, wie auch immer. Meine Arme sind taub und schmerzen, ich innerlich erneut am Rotieren, die Leere im Magen trotz Abendessen nicht verdrängt. „Komm und erlöse mich von mir...“, schallt aus den Boxen der Stereoanlage. Das Brennen hält sich heute sehr lange, aber es bleibt wirkungslos. Was ist es, wonach sich meine Seele sehnt? Schreien? Heulen?

Morgen nach dem Aufstehen werde ich laufen. Und wenn ich krieche, aber ich werde laufen und dem Schmerz die Stirn bieten. Wenn auch nur für Sekunden Frieden in mir...


22. August, Dienstagmorgen

35 Minuten Laufen. Eine Woche nach dem letzten Lauf. Endorphine legten sich wie Balsam auf die Seele. Endlich wieder Aufatmen. Dem Schmerz, den Missempfindungen, der augenscheinlichen Unsicherheit zum Trotz.
 


23. August, Mittwochmorgen

Warten auf den Zustelldienst. Warten und doch keine Ahnung, wann in etwa mit der neuen Waschmaschine zu rechnen ist. Ein Aufruhr in meiner Seele. Das Laufen fällt aus. Doch ist unter diesen Umständen überhaupt daran zu denken? Das linke Bein steif und am Schmerzen.

„Nein, MS macht keine Schmerzen...“

Nein, es ist amüsant wenn sich die Muskulatur zusammenzieht und hart wird.

Das Vertrauen in die 5mg Lioresal schwindet von Minute zu Minute. Aber solange ich sitze... Wenn ich laufen könnte, müsste ich nicht so angestrengt darüber nachdenken. Würde einfach nur gegen die Missempfindung ankämpfen. Ich weiß nicht was mit mir los ist. So dermaßen aus dem Gleichgewicht, ich könnte jetzt zu so früher Stunde schon austicken. Ich bleibe sitzen, konzentriere mich auf den Schmerz und warte.

Der Tag noch jung, doch ich habe bereits den Faden verloren. Was sind die Gründe, die mich so derart wahnsinnig machen?

Dass ich nicht Laufen gehen kann?

Dass ich nicht auf der Waage war und keine Kontrolle über mein Gewicht habe?

Der Rückschlag, den mein Körper gerade einstecken muss?

All die Dinge, die es zu erledigen gilt, ich mich aber außer Stande sehe sie zu meistern?

Der Aquarellblock liegt hinter mir, aber wenn ich Warten muss, fühle ich mich erst recht blockiert.

Wahrscheinlich trägt alles seinen Teil dazu bei dass ich mich fühle, wie ich mich nun mal gerade fühle. Ich wurde scheinbar aus heiterem Himmel gereizt. Es tut mir leid.

Jetzt losrennen und mich in die Betäubung flüchten würde nur zu weiteren Eskalationen im Laufe des Tages führen. Also sitzen bleiben, Tee trinken, hoffen er kommt bald damit ich wenigstens noch etwas Zeit habe um das Laufen zu versuchen.

10:30

Noch immer um keine neue Waschmaschine reicher, aber Laubfrosch und Goldammer singen ein Duett in den Jungerlen. Immerhin etwas. Auf der Suche nach Ablenkung fand ich dankbare Überanstrengung im Garten. Jetzt schmerzen beide Beine, knicken weg, quittieren den Dienst. Und doch nichts erreicht. Der Garten wächst mir wortwörtlich über den Kopf, bzw. das was da nicht wachsen sollte. Abgesehen vom Salat. Zuerst scheiterte eine Aussaat nach der andren, und jetzt weiß ich nicht mehr wohin mit dem Zeug. Rausreißen, Familienmitglieder beglücken, selber essen, die Schnecken zu Tisch bitten.

Ich scheine nun aber etwas ruhiger, der erste Sturm überwunden. Obwohl Tage, die im Bett bereits mit Realitätsverzerrungen beginnen, selten ein gutes Ende nehmen.

 

Oh, ich glaub sie kommt.

Umsonst vor die Tür gerannt, aber mit einer Wespe auf der Schulter wiedergekommen, was ja auch eine Art von Bereicherung sein kann. Bald ist es 11 und ich hab endlich eine Aufgabe, die wirklich Sinn macht: Kochen.

Wieder ein Anruf, aber nicht vom das Haus nicht findenden Zustellmenschen, sondern wieder ein Umfrageinstitut: Der subjektive Unterschied zwischen zwei Joghurtmarken. Ich oute mich eindeutig als Markensau, obwohl ich tatsächlich immer die billigere Sorte kaufe. Und wieder frage ich mich, wer unsre Telefonnummer verkauft hat....

Abend

Die Waschmaschine ist da, ich aber todunglücklich weil sie nicht an die Wand, geschweige denn in das Gesamtkunstwerk Bad passt. Gut, würde man 5 Kinder davor stellen, gäbe es keinen Zweifel am Vorhandensein dieser RIESEN Maschine. Aber in einem „noch“ Zweimannhaushalt bekommt das ganze einen leicht größenwahnsinnigen Touch.

Die Unruhe wurde durch dieses Problem noch geschürt, ich wieder gereizt und am Rumgiften. Das Weite suchen. Rein in die Laufklamotten und ab die Straße runter. Nach anfänglichen Versagensängsten meiner Beine kämpfte ich mich den extra steilen Hang hoch, und das in einem Schweinetempo, dass einem vom Zugucken schwindelig werden muss. Ja, ich hab es WIEDERMAL übertrieben, spätestens beim ersten Halt wurde mir dieses auch bewusst als es mir die Beine wegzog. Dennoch. Ich bin stolz drauf. Wieder über Leichen gegangen, kein Stück weiser geworden, aber glücklich zu Hause angekommen und nun bereit für ein wunderschönes Abendessen, dass ich mir voller Genuss vergönnte. Es war zwar „nur“ Salat, dennoch...

Der Tag geschafft, überstanden, ohne Auszuticken. Bin ich stolz darauf?

 


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