VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2006

 

21. März 2006, Dienstagnachmittag

Dieses Lähmungsgefühl im rechten Arm hielt sich heute permanent den gesamten Lauf, teilweise fühlte ich mich, als hätte ich ne Schlagseite bekommen. Die Schwäche in den Beinen und die Gleichgewichtsstörung kristallisieren sich heute klar heraus. Ach, was soll’s? Bzw. was soll ich schon machen? Den Nachmittag über Ruhe geben, Tee trinken...


 

23. März, Donnerstag kurz vor 7:00

Die Beschwerden sind im Moment minimal; werd ich mich zum Deppen machen? Ist es wirklich vernünftig hinzufahren? Wenn ich tippe, wie jetzt, denk ich mir: Ja! Denn meine Hand quittiert wieder ihren Dienst. Und ich weiß mit Sicherheit, dass wenn ich nun laufen würde, die Beschwerden ohnehin wieder massiv auftreten würden... Ach, hör auf dir darüber einen Kopf zu machen! Mehr als unverrichteter Dinge wegschicken können sie dich ja ohnehin nicht... oder?


24. März, Freitagnacht

Kein neuer Schub, aber wahrscheinlich ein Plaque, der irgendwo draufdrückt und so zu diesen Anfällen führt, eine Packung Antiepileptika und nächsten Mittwoch noch ein Termin in Oberwart, wenn meine zuständige MS-Spezialistin Dienst hat. Die Tabletten sind heftig! Ich lief heute, als sei ich bekifft, nur mit dem kleinen, feinen Unterschied, dass mein Geist ungetrübt war. Ich frage mich, was schlimmer ist: Die Beschwerden oder die Nebenwirkungen? Morgen nehm’ ich bereits 3x300mg davon. Mir graut schon, und ich weiß, dass ich ab nun besser mit Handy laufen sollte.

Immer wieder verliere ich die Kontrolle über meinen rechten Arm und der Schwindel macht mich unsicher. Ich weiß nur noch eines, nämlich dass die Sehnsucht nach der Klinge immer noch present ist, doch tatsächlich nicht mehr so stark, wie vor dem Bild. Jeder Pinselstrich mit roter Farbe auf dieser weißen, nackten Figur war eine Wohltat, als würde ICH mich schneiden, als würde ICH bluten. Nackt hab ich mir meine Seele ausgeliefert und konnte sie weinen lassen. Und es tat gut, ich spürte jeden Pinselstrich, fühlte ihn am ganzen Körper, fühlte auch das Leben aus mir gleiten, den Frieden der sich über die Figur legt und alles betäubt und still werden lässt. Unendliche Stille in dem unendlichen Weiß, Blut fließt lautlos und ist das einzige, das Spuren hinterlässt, während die Figur verblasst um irgendwann verschwunden zu sein. Ich hatte mich versehendlich geschnitten. Ich erschauderte, als ich das Blut sah, mein Blut über mein Handgelenk laufen sah. Ich weiß nicht mehr was ich mache und was nicht, die Zeit wird die Antworten zur rechten Zeit bringen, so wie sie es seit jeher tut. Ich werde warten. Und mich nicht schlecht fühlen, wenn die Antwort zugunsten meiner Sehnsucht ausfällt...


28. März, Dienstagmittag

Je schlechter es mir geht, desto empfänglicher bin ich für meine alten Ängste. Ich falle in alte, schon fast vergessene Muster zurück, der irgendwann eintretende Tod anderer schnürt mir dir Kehle zu und Tränen schießen mir in die Augen. Um den ohnehin schon nur noch schwer zu ertragenden Zustand zu übertünchen mit noch schlimmeren Schmerzen? Wenn sie wüssten, wie ich unter dieser Angst leide, seit ich denken kann, immer da und darauf lauernd, dass ich schwach werde oder der Abend kommt, mit seiner Dunkelheit und all den bösen Fratzen in meinem Schädel. Ich versuche Luft zu holen und mich aus dem Sumpf zu ziehen. Und ich schaffe es sogar, doch am Ufer wartet eine ganz andre Macht, wartet, dass sie mich wieder voll und ganz packen und verschlingen kann. Die Lähmungsanfälle werden immer stärker, immer massiver greifen sie in meinen Alltag ein, der Schwindel lässt mich in die Knie gehen, ich verliere den Halt und es zieht mich zu Boden. Die Abstände zwischen den Anfällen werden immer kürzer, teilweise so knapp, dass es mir unmöglich erscheint, den Arm und vor allem meine Hand zu gebrauchen. Ich lief und ein Schlag traf mich nach dem andren, irgendwann krallte ich meine Hand in mein Laufshirt, damit sie nicht immer schlaff nach unten fällt, doch es schmerzte, der Erdanziehung nicht zu gehorchen... Irgendwann fiel der Arm, durch das ständige festhalten, nicht mehr nach unten, sondern verkrampfte sich und er beugte sich, zog sich zusammen bis er fest an meinem Oberkörper gepresst war. Ein unangenehmes Gefühl durchzog meine rechte Torsohälfte. DAS soll KEIN Schub sein????!!!! Mittlerweile brauche ich für mein Mittagessen viermal so lange wie gewöhnlich. Beim Kochen torkle ich durch die Küche, versuche mich an der Arbeitsfläche immer wieder festzuhalten wenn es meinen  Körper im Schwindel nach unten zu ziehen versucht, beuge mich nach vorn, geh in die Knie, bis das Gewitter in meinem Kopf abzieht und mir kurzfristig meine Koordination und vor allem mein Gleichgewicht wieder gibt. Ich bin dennoch erstaunt, dass mir so viel Kraft beim Laufen innewohnt... sieht so das Geschäft aus? Ist das die Bezahlung, der Ausgleich für den andren Scheiß? Und dann, zwischen all dem Unheil, gaukelt mir meine Krankheit vor, als sei alles in Ordnung, um mich dann von hinten erneut anzugreifen, überraschend zuzuschlagen und alles aus den Fugen geraten zu lassen...

Ich werde heut Abend sicherheitshalber einen Schwangerschaftstest machen, und hoffe, sie schicken mich morgen nicht unverrichteter Dinge wieder weg. Ich bin an dem Punkt angelangt, an dem ich mit mir und meiner Krankheit zu hadern beginne. Und wenn dem erstmal so ist, ist irgendwo eine ohnehin schon zu großräumig gesetzte Grenze überschritten...


5. April 2006, Mittwochnacht

Endlich, dieses Hin und Her hat endlich ein Ende genommen. Nachdem die Anfälle vorgestern und gestern zwar in der Zahl weniger wurden, dafür aber um so massiver, heute dann verschwunden waren, waren es meine Beine die das MS-Zepter an sich rissen. Kribbelparästhesien, Schwäche mit Schwächeschmerz und wie es aussieht sogar eine leichte Gangbildstörung. Nein, so wollte ich nicht schwanger werden... und nach kurzem diskutieren, welche Dosis denn nun die richtige sei, wurden es doch wieder 1000mg, aber nun nur für 3 Tage. Ich glaub, mehr ginge auch nicht, bzw. mehr kann ich den Turnusärztinnen nicht zumuten.

Schon als mich Schwester Hedi aufrief und ich sie nach dem „Superstecher“ fragte, der mich denn nun heimsuchen sollte und sie meinte, dass es zwei Turnusärztinnen seien, konnte ich nur noch ein gequältes: „DIE ARMEN KÜKEN!...“, von mir geben...

Wie lang die Prozedur dauerte? Hm, ich schätze mal zuerst über ne viertel Stunde, ich bot nach einer spektakulären PVC-Boden-Einsauung, die ich natürlich wieder tragischerweise verpasste und wohl 5 erfolglosen Stichen an, mal „etwas“ zu trinken, ein heißes Bad zu nehmen und in einer viertel Stunde wieder zur Verfügung zu stehen. Gesagt, getan. Zwei Liter Wasser EX, für mich alten Teesuffkopp kein Problem und ein Ausflug ins Klo unter den heißen Wasserstrahl. Als ich wiederkehrte hatte sich die Zahl verdoppelt und eine Ärztin stach mit dem Butterfly, traf, aber letzten Endes war’s umsonst, die Infusion lief grad mal ne Minute, ehe ich Walter hinter mir her schleifend zurückkehrte, Schwester Elisabeth einer Gesichtsentgleisung zum Opfer fiel, ehe sie die armen Turnusärztinnen wieder rufen musste....

Wie lang das zweite mal dauerte, vermag ich nicht einzuschätzen, aber ich tippe, dass insgesamt ne Stunde für die Venensuchaktion draufging. Ich dachte dann schon, endlich in den Genuss einer Synchronstechung zu kommen. Die ständigen Bestätigungen, dass man so was noch nie gesehen hätte und dass es so was gar nicht gäbe, erfüllten mich mit Stolz. Ständig musste ich bestätigen dass der Schmerz Pipifatz sei und ob man, bzw. frau nicht mal die Oberarme in Betracht ziehen könnte... und nach dem, ich schätze, 10. Stichversuch wurde meine Idee beherzigt und siehe da!!! Das Korti floss anstandslos in meinen Körper und vielleicht lebt der Venflon auch morgen noch, das wär doch zu schön um wahr zu sein.

Dann noch Ärger mit der Krankenkasse, bzw. dem NICHT-bewilligen-lassen des Rezeptes wegen einer NICHT-zur-KK-Faxens...

Mal sehen, was der morgige Tag für mich und meine nicht vorhandenen Venen bereit hält, ob ich mein Bild zu Ende bringe und ob Freitagmorgen das Rezept bewilligt beim Hausarzt liegt und ich meinen Stoff ENDLICH in der Apotheke holen kann....

 

Es gäbe noch SO viel zu erzählen, aber mein Schädel ist leer, ich unendlich erschöpft nach diesem viel zu langen Tag, der wieder an meiner Grundsubstanz nagt...

 

Wer weiß, wann mein Tag morgen beginnt... Vielleicht ist ja noch Zeit es nachzuholen...


6. April, Donnerstag 9:03

Ich hänge, der Venflon von gestern im Oberarm funzt tatsächlich noch, obwohl er gestern verdächtig schmerzte und mich fast verleitet hätte, ihn vorsorglich zu entfernen.
Mir ist schlecht, aber das war es schon vor der Therapie und ich mutmaße, dass es von dem neuen Antiepileptikum her rührt. Es ist heute verhältnismäßig ruhig in der Ambulanz, als wir nach 8 hier eintrafen war der Flur wie leergefegt. Kontrastprogramm zu gestern. Immer wieder Kontrollblicke gen Himmel, bzw. auf Walter samt Flasche, die die Sicht versperren. Apropos Walter: Dieser hat es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Kurzausflug zu nutzen, um irgendwo anzuecken. Ein Stich in der Achselhöhle als ich wiederkehre; Blut sammelt sich im Schlauch, am Tropfregler gespielt nach Mengen-Zeitvergleich, über die Bemerkung meiner Mutter nachdenken, mein Oberarm sei bereits geschwollen und eine Schokoreiswaffel genießen. Und justament beginnt es unter dem Zugang zu pochen und ich überprüfe den Arm nach typischen Anzeichen einer Stauung, die Flüssigkeit blubbert weiter in mich hinein, der Schmerz nicht stark genug um ihn zu erwähnen, bzw. nun so kurz vor Ende. Nagut, so gesehen bin ich nach exakt einer Stunde noch nicht weit. Wieder manipulieren am Regler, mit dem rechten Ohr Korn verfallen, das linke meiner Mutter gewidmet die sich beim Quälen mit einem Sudoku in ihrer Hausfrauenzeitschrift ablenkt, aber zwischendurch immer noch Zeit findet, Schmerzbekundungen mit selbst gestellten Diagnosen in den langen Flur, und auch in mein linkes Ohr zu werfen. Was mich absurderweise dazu führt, über die Laufpause, bzw. deren Länge nachzudenken, die wohl maximal eine Woche dauern wird. Meine Mutter kapituliert währenddessen angesichts der Überhand nehmenden Zahlen, blättert um und widmet sich, somit auch mich, den mehr schlechten als rechten Witzen. Die Blasen in der NaCl-Flasche werden zusehends mehr, potenzieren sich sekündlich, was ein jähes Ende der Prozedur prophezeit. Nach 1:10, Schluss! Und Venflon raus, darunter ist die Haut schon bläulich und ein ausdauernde Schmerz verheißt grundsätzlich nichts Gutes...


7. April, Freitag, 18:30

Die Sonne scheint mir von der Seite ins Gesicht, während eine neue Kanne Grüntee auf dem Stövchen zieht. Es war wieder ein langer Tag, zu lang für meinen Körper und auch für mich. Die Krankenkasse lieferte sich wieder mal ein Gefecht mit dem „Patienten“, der ohnehin dazu veranlagt ist nur zu verlieren. Die aus Versehen allein zum Bewilligen eingeschickte Stechampulle vom feinsten Urbason wurde ja auch prompt bewilligt, doch nun auch noch die andren beiden, nachträglich zu bewilligen, war den feinen Damen und Herren von der BGK wohl zu viel des Guten. Die Begründung: Ich hätte doch erst im Dezember einen Schub gehabt, der neue Schub kann somit gar nicht gegeben sein... HÄ? Wie was wo wer warum? Darüber nachdenken und mir meinen Schädel zermartern? Nene, da bezahl ich lieber die 168€ Einsatz, räum somit mein Konto schon am Anfang des Monats ratzekahl leer. Ach, was beschwer ich mich, bin doch noch gut im Rennen, mit genau 2,49€ im PLUS!!! Etwas bewilligen zu lassen, kann Stunden dauern, doch die Ablehnung war binnen 8 Minuten da, ein fleißiges Völkchen, die da oben in Eisenstadt.

Doch der Tag sollte noch glorreicher weitergehen. Heute, endlich, kam ich in den Genuss einer 1A Synchronstechung, ich vergebe die Note 9, ja, nur ne 9, weil doch die Körperteile zu unterschiedlich waren, aber immerhin reicht es für den Sieg! Ein Hoch auf die Helden er Arbeit! Ich dachte schon, nach der ersten halben Stunde würde ENDLICH jemand ausrasten, verzweifeln, schreien, weinend zusammenbrechen, weglaufen, IRRRRGENDETWAS, aber nein, die beiden hielten durch, in unnachahmlicher Ruhe versunken, ca. eine ganze Stunde, ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. Mir wurde erneut bestätigt, dass mich so schnell niemand von meinem „ABSOLUT ULTRA ULTIMATIV-SCHLECHTE VENEN- THRON“ runterschubsen könne, was unweigerlich kurzfristig zur geschwelten Hähnchenbrust vor Hühnchenhaufen führte. Mir gingen die Geschichten aus, mir war am dritten Tag meiner Therapie auch überhaupt nicht mehr danach, meine Mutter war mit ihrem Herumpolitisieren im Auto schon kaum zu ertragen. Wundern darüber, dass ich noch immer nicht jammere. Ich tat ihnen den Gefallen und mimte die sterbende Patientin, Autogramme gab's später... Nach einem erneuten Heißwasserbad stellte ich mich wiederum zur Verfügung und dachte, als ich die Stiche zählte, dass ich nicht ungeschoren durch eine Polizeikontrolle käme. Doch dann, nach diversen „Tschaaakkaa- Bekundungen“, am Wendepunkt, nach ca. einer Stunde ausharren, Daumen drücken, am 13. Stichpunkt, der über Gut und Böse entscheiden würde, über ein Überschreiten des Venenstechrekordes, flammte in den Augen einer Ärztin Siegesmut auf, gebanntes Starren auf den rechten Handrücken, banges Vergraben der Zähne in der Unterlippe, Luft anhalten... Und JA, JAAA, TOOORRRR, WIR SIND DEUTSCHLAND, WIR SIND PABST und WAS AUCH IMMER!!!!!

Meine Güte, was für ein Sieg, was für ein Tag, was für HELDEN der Arbeit, kein Oberarzt dieser Welt hätte SOLANGE durchgehalten, ich war mehr als positiv überrascht. Und NEIN, das ist kein Sarkasmus, dieses mal nicht, ich war wirklich freudig überrascht über soviel Ruhe und Ausdauer und dabei noch Freundlichkeit zu versprühen, muss schon eine Kunst sein... Der Tag musste ja erfolgreich enden.

Die Kohlmeisen schwirren zu viert um mich rum, prügelnderweise in der Luft, während die Sonne soeben hinter dem Hügel zu meiner Rechten verschwindet, ich mittlerweile in meine dicke Schafwolldecke gewickelt auf der Bank Platz genommen habe um die letzten wärmenden Schlucke vom Tee zu genießen und vor allem auch das frühlingshafte Abendkonzert und die nun eintretende Menschenstille. Ich höre meine Amsel, eine Türkentaube, die verrückten Kohlmeisen, eine Singdrossel, das zaghafte Ziepen einer Goldammer, unzählige Fasane und noch vieles mehr... Es wird kalt, meine Finger steif und Zeit für mich ins Wohnzimmer zu verschwinden, wo es dank Wärmepumpenbetriebseinstellung auch nicht viel wärmer ist.

Die Kirchenglocke in Jennersdorf schlägt zur 19. Stunde. Noch ein Schluck Tee, dann pack ich Gerri, meinen Schlepptop, bevor er noch Frostbeulen bekommt.


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