VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2003

14. Oktober 2003, Dienstagmorgen - LKH Oberwart
Die ersten goldenen Sonnenstrahlen küssten zärtlich die Baumwipfel und die Spitzen des sanften Hügellandes. Die Nebelkrähen waren wieder meine Weggefährten auf dem alten, leidvollen Weg Richtung Krankenhaus. Ich zählte die Kreuze, 6 säumten meinen Weg. Wie oft werde ich sie noch zählen?
Angekommen mit vielen Fragen und einem Gefühl der Absurdität. Wieder kein Parkplatz, spielt mir die Zeit einen Streich?
Zuerst auf die Damentoilette; es riecht immer noch penetrant nach „Ahoj-Himbeerbrause“.
Was dann folgt scheint schon so alt wie die Zeit zu sein: Warten.
Ein viel zu kurzes Gespräch, das mich mit einem Gefühl der Atemlosigkeit zurücklässt. Szenen spielen sich in meinem übermüdeten Schädel ab. Wiederholungen? Ohne es eigentlich realisieren zu können kriecht diese widerwärtige Leere, die in diesen Gängen wie wabernde Nebelschwaden hängt, in mich und füllt mich aus. Ich fühle nicht mehr. Tot.
Der metallene Geschmack in meinem Gaumen schleicht sich ein. War es nicht schon immer so? Stereotype. Sinnlosigkeit. Depression.
Das Leben erscheint ein einziges Sterben zu sein, das bei der Geburt einsetzt und jedes vollendete Lebensjahr gleicht einem Minutenschlag in der Stunde des Daseins. Was heißt erscheinen, es ist so.
Ich fühle mich so unendlich alt. Ich fühle mich so unendlich verlangsamt während die Zeit an mir vorbeirast. In mir erwacht erneut der Wunsch die rasante Fahrt zu stoppen, jeden Tag ein Stückchen mehr...


15. Oktober 2003 , Mittwoch Spätnachmittag
Um alles, was heute schief gelaufen ist, aufzuzählen, bedarf es viel zu viel Zeit, Papier und vor allem Energie, die ich nicht mehr habe. Kurz: Eigentlich hätte ich heute meine 2. Kortistoßtherapie beim Hausarzt bekommen sollen, nachdem ich die 1. gestern bereits in Oberwart erhalten hatte (was schon sehr anstrengend war). Doch nichts sollte so passieren wie es sein sollte. Ich fühle mich nun am Ende meiner, wie mensch sagen muss, langen Reise geschunden (siehe Armbeugen- ich sage nur: 7 Stiche ins NICHTS) und unendlich leer und müde. Alles nahm ein gutes Ende, doch war es den Terror wert? Noch ein kurzer Rückblick auf meinen Geburtstag: Die Depression brach über mich und verführte mich am Tag darauf beinahe zu einem Rückfall in die Bulimie. Ich hab gefressen, geheult und war frustriert, weil mein Geburtstag wieder scheiße war. Die Traurigkeit vermag ich nicht in Worte zu fassen.

Ich bin nur müde und ausgelaugt.


17. Oktober 2003, Freitagvormittag - LKH Fürstenfeld
Wieder waren es die Krähen, das alte Szenario, eine Art ungeschriebenes Gesetz, die mich begleiteten auf meinem Weg. Ich möchte nicht gerade behaupten heute fahrtauglich gewesen zu sein, aber die Busfahrt wäre noch teurer gewesen. Die ganze Fahrt über immer die selbe Frage: Welcher Graben wird mein Ende sein? Welche Seitenmarkierung muss dran glauben? (Zum Glück (?) habe ich einen stark ausgeprägten Rechtsdrall –zum Glück kaum Fußvolk auf den Straßen)
Kein Parkplatz vor dem LKH, kein Parkplatz in der Stadt (bzw. keine kooperativen Parkautomaten), 20 Minuten angestrengtes durch Parkdecks, enge Straßen und enge Parkplätze quälen und mit Verspätung hier angekommen und zum Glück beim zweiten Versuch einen Platz gefunden.
Warten.
Zum Glück mit Gespräch, mein Bruderherz hat Rot-Kreuz-Dienst. Kurzes Austauschen von Sorgen und Ereignissen. Tiefe Seufzer. Dann muss er weiter.
Das Wartezimmer aufgrund der bevorstehenden Computerumstellung heillos überfüllt, doch nach dem Smalltalk war auch für mich ein Stuhl frei geworden. Ärmel hochkrempeln, weil es nach dem Frost draußen und dem Stress ganz schön heiß geworden ist. Angestarrt werden, nicht nur weil ich wieder die Jüngste auf der Onkologie- Ambulanz in diesem wartendem Haufen bin. Ein kleines Gefühl von Einzigartigkeit in all der Unruhe und der herrschenden Gleichheit.
Endlich an der Reihe, mit einer Stunde Verspätung.
Abgelegen im letzten Untersuchungsraum, alleine, ohne Schlagerparade. Es war kein Platz im Therapieraum frei geworden. Gar nicht so schlecht. Ich bin viel zu aufgekratzt und zu unruhig um das Gejammere und all die Bemitleidungen der anderen Patienten zu ertragen. Dieses schreckliche Geseiere war gestern schon kaum zu ertragen: Ihnen geht es sicher nicht so schlecht wie mir! –Ach, wenn sie wüssten! (theatralisches Augenverdrehen und Abwinken) 
Albern!
Was wollen die eigentlich? Sollen sie sich doch gleich zum Sterben hinlegen oder zumindest gleich eine passende Formulierung suchen, sodass man weiß was sie einem sagen wollen. Ich weiß nicht wie ich mich mit Krebs verhalten würde, aber ich würde mir niemals anmaßen Vergleiche zu ziehen um mein Leid als das ultimative „Non-plus-ultra-Leid“ unangefochten als einzig gültiges in den Raum zu stellen. Das sei dem Außenstehenden überlassen.
Aber diese beschissenen „Ihnen geht es nicht so schlecht wie mir!“ –Sätze kann ich nicht mehr ertragen, habe ich sie doch schon selbst an den Kopf geworfen bekommen. Beinahe so, als hätte ich zu einem „Leid-Duell“ aufgefordert.
Vielleicht ist es ganz praktisch das Leben als groß –inszeniertes Sterben zu betrachten, so erspare ich meinem Umfeld die leidige Leid-Debatte. Wir sterben doch alle.
Oder bin ich weniger wert in einem „Krankenhaus-Leid-System“ wenn meine Beschwerden im Vergleich zu anderen geringer erscheinen mögen? Das könnte des Rätsels Lösung sein.
Kurze Klopause.
Streitigkeiten im Besprechungszimmer nebenan. Der Arzt bekommt einiges an der Kopf geworfen.

Oder diese ständige „Mein Leben ist nichts mehr wert, ich sollte sterben!“-Scheiße, die eigentlich auch nur den Zweck hat Mitleidbonuspunkte zu sammeln (bei den meisten zumindest und ich maße mir an das mit meiner Krankenhauserfahrung etwa beurteilen und einschätzen zu können).
Wenn ich von meinem Tod rede schwingen ganz andere Gefühle und Hintergründe mit. Ich brauche dann kein Mitleid, keine "mich-bekehren-wollenden" Konversationen. Ich denke schon so lange über meinen Tod nach weil ich mir seiner Gegenwart schon immer bewusst war. Und ich glaube genau das lässt mich überleben und mein langsames Sterben besser verstehen.
Wahrscheinlich ertrage ich die Selbstmitleidsfließerei in solch‘ angespannten Momenten, oder nennen wir es Ausnahmesituationen, einfach nicht und es fällt mir sehr schwer Mitleid aus noch irgendeiner krümeligen Hosentasche hervorzukramen um adäquat zu reagieren. Vielleicht bin ich auch wieder ein wenig gestorben und verhärmt.

Menschen ziehen am Fenster vorüber, alte Menschen, sie gleichen sich irgendwie. Alles, nur NICHT so werden, NIEMALS in dieser im Gleichschritt stolpernden Masse untergehen.
Ab und an kommt eine Schwester freundlich lächelnd bei einer der Türen herein und beäugt meinen aktuellen Zustand. Mein Gesicht glüht, man vermag noch kaum die Leichenblässe der letzten Tage erahnen. Mein Herz scheint zu rasen. Die Infusion liegt gut in der Zeit, Halbzeit um es genau zu nehmen. Mein Magen hängt wie ein Ziegelstein in meinem Torso, und mit Baumaterial kenne ich mich mittlerweile aus. Mein Brustkorb raubt mir den Atem wie ein viel zu eng geschnürter Mieder. Nichts tut jetzt besser als laute, aggressive Musik. Es gleicht einem Rausbrüllen all der Unruhe und Anspannungen.

So ein verf.... Geburtstag, ich hätte Sebastian was schöneres gewünscht. Aber ich habe es wieder nicht geschafft und die Zeit rast an uns vorbei und lässt uns altern. Und dann noch diese schrecklichen Krankenhausuhren, die hier überall wie böse Omen verteilt sind und der Sekundenzeiger ohne zu ticken in einer gleichmäßigen Bewegung durchläuft und einem das Fliehen der Lebenszeit mehr als spektakulär demonstriert. Ein einziges Rasen worauf mein ganzes ICH wieder nur mit Atemlosigkeit reagiert. Atemloses Zusehen beim verstreichen des Lebens. Irgendwie betäubend.
Und wieder die Frage nach dem: „Und? Was hast du die letzte Zeit gemacht?“
Ah, ...öhm... vergeudet?
Der Sekundenzeiger dreht unbeirrt und ohne inne zu halten seine Runden und beinahe grotesk erscheint hingegen der Raum, der in sich ruht während die Zeit an mir bereits ihre Fraßspuren hinterlassen hat. Ein seltsames Trauerspiel.
„Alles in Ordnung?“, kurzer Kontrollblick einer Schwester über die tief auf die Nasenspitze gerutschte Brille geworfen.
Noch bin ich da, noch nicht vermodert, noch am Atmen. Der Zeitfraß noch nicht sichtbar? Meine Wangen fühlen sich aber an als würden sie verdampfen.
Und die Zeit rast an mir vorbei, meinem Ende entgegen bis nur noch ein Häufchen Staub übrig bleibt und alle Ästhetik, falls jemals vorhanden, gespalten und zerlegt wie ein kleiner Berg Atommüll nach dem Zerfall zurückbleibt und verweht wird.
Ergo: Was ist so schlimm am Tod?

Den ausgeliehenen Kulli heiß und bald leer geschrieben, wieder etwas am Tropfregler gespielt um mir dabei eines massiven Schwindels bewusst zu werden. 10 Minuten noch. 10 Minuten meines Lebens. Seltsames Gefühl.
Der rote Sekundenzeiger rast. Rot..., wie ein Warnsignal, ein unübersehbarer Fingerzeig. „Achte auf deine Lebenszeit!“
Ich tue schon nichts anderes und schaffe es nicht für nur einen kleinen Moment des Glückes inne zu halten.
Wie der Zeiger selbst.... Alles geht dem Ende zu...


18. Oktober 2003, Samstagvormittag - LKH Oberwart
9:50
Krähen, immer wieder Krähen. Sie versammelten sich heute außergewöhnlich zahlreich an den Straßen, aller Arten, allen Alters, wie zu einer Leichenprozession.
Wir stiegen auf dem aschgrauen Parkplatz aus, ein Hausrotschwanz tat von seiner Anwesenheit kund, Dejavue als mein Fuß den toten Boden berührte. Ekelschauer über meinen Rücken, Übelkeit als sich der betonfarbene Schlund des Krankenhauses weit auftat um uns einzulassen. Die alten Gerüche nach Pisse, Zwiebel, Krankheit und Tod. Der gelbe Flurboden auf der neurologischen Station mit Tee- und Kaffeeflecken übersäht; ich kenne es gar nicht anders. Feuchtes Röcheln aus einem der Schlaganfallspatientenzimmer; so lange wie es sich liest so schwer ist es auch zu verdauen. Mir ist schlecht.
Der Fernsehraum für die Raucher unter den ohnehin schon kranken ist um diese Uhrzeit wie gewöhnlich gut frequentiert. Der Gestank, der dem Raum bei jedem Betreten oder Verlassen entfleucht ist schier unerträglich für den Klotz in meinem Bauch. Ein Schluck Wasser spült diesen merkbar hinab in meinen ohnehin sich krümmenden Verdauungssack. Schweißgeruch; beinahe eine Erleichterung für meine Sinne.
Müll und schmutzige Stationswäsche wird hin- und hergefahren; Krankenhauslogistik? Langeweile und Herzrasen während Menschen kommen und gehen. Durch die vergilbte Scheibe fallen bewegte, stumme Bilder in meinen Blickwinkel. Seltsames Schauspiel, irgendwie makaber diese erzeugte Hektik in dieser unbeweglichen Atmosphäre.
Ich finde nicht die passende Tropfgeschwindigkeit was meine Nervosität nicht unbedingt abbaut. Hier ist alles so blass, so krank, so tot.
Ein bisschen über eine Stunde noch, eigentlich lief heute alles erstaunlich glatt über die Bühne. Vielleicht vermag diese Tatsache etwas zu beruhigen.
Eine Milchschnitte noch, aus purer Langeweile –wann platze ich endlich? Sie ist matschig und warm und mir ist kalt und speiübel. Egal.
Raucher kommen und gehen und ich frage mich jedes mal aufs neue: WIE kann mensch bloß? Als ob es einem hier nicht schon schlecht genug ginge, radikalisiert mensch nur sein Leid. Mir fehlt jegliches Verständnis und Mitleid.
Leeres Starren in den unendlich wirkenden Flur während sich mein Puls dem Rhythmus der Musik aus dem MP3-Player hingibt, immer wieder unterbrochen durch den Signalton des Kopierschutzes, der das Lied im 30 Sekundentakt förmlich abschlachtet.
Hoffentlich hab ich’s bald überstanden....


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