VErfall, Krankenhauslivebericht, Danach -Kortisonstoßtherapie bei MS Schub 2002

18. November 2002, Montagmorgen, 9:00

Den Tod körperlich noch nicht richtig verdaut, der Magen am Schmerzen, bin ich wieder im Krankenhaus, muss Wiegungen über mich ergehen lassen, die wieder Mal bestätigen wie FETT ich doch bin.

69, 69, 69 rotiert es durch mein Hirn. DU FETTE SAU!

Und nehme mir im selben Atemzug vor, hier kaum etwas zu essen, sonst kann ich dem Kotzen ohnehin eine neue Chance gewähren.

Meine Zimmernachbarin nervt mich jetzt bereits nach nur 30min. Radio Burgenland in voller Lautstärke. Noch ein Grund zu Kotzen!!!!

Ich nerve zurück mit aggressiv-lautem Getippe, in Gedanken streck ich ihr auch noch die Zunge raus, den MP3 Player auf Volldröhnung, in der Überzeugung, die qualitativ hochwertigere Musik zu hören.

69... Ich fühle mich nach Aufgeben und zusammenbrechen... Müssen Tage, die noch so jung sind, so grausam sein? Ich fühle den absoluten Jähzorn.

Meine Zimmernachbarin wird abgeholt, Bademantelfraktion! 

Ginge der Radio eventuell kaputt wenn ich Wasser darauf kippen würde?

Essen bestellen und gleich meine Essunlust zum Ausdruck bringen, Aufnahmegespräch, geduzt werden, etwas wohler fühlen, obwohl der Hass auf meinen Körper und meinen beschissen gierigen Geist anhält.

Und dann dieses drückende Gefühl in meiner Magengegend, dass ich den Tod doch nicht so richtig verkraften konnte, vielleicht auch ein schlechtes Gewissen, diesen nicht als Ganzes wahrgenommen zu haben, das Bedürfnis, irgendetwas zu erbrechen, vielleicht auch Gewissensbisse, diesen nicht wie der Rest der Familie als etwas Böses zu betrachten.

Trotz Port funktioniert wieder Mal nichts wie es soll, ich frage nach dem Sinn dieses verpfuschten Eingriffs...

Das Drama Blutabnahme erreicht heute wohl eine neue Qualität, 4 Ärzte, 3 Stiche, Port mit zig Spülungen unter (Kochsalz-)Wasser setzen, Blut kommt –nicht –kommt –nicht, zwei ganze Blutröhrchengarnituren, von einer Sorte drei Fläschchen verschwendet, feststellen, dass der Port wohl doch nicht so funzt wie er eigentlich sollte, und dann endlich ein Treffer, gefeiert mit einem leisen „YEAH!“ des Chefarztes.

Erlösung.

10:45

Mein Kopf wird schwer, mir fehlen Kohlenhydrate, vielleicht eine Orange.

Ich denke an das Begräbnis, Erinnerungen wandern vorbei, eine Lakritzkatze muss ausreichen.

Es ist seltsam, das ganze erscheint völlig unreal, in Nebel verhüllt, selbst meine Augen können nur schleierhaft sehen.

Visite.

11:00

Diese Monsterflasche, 1000ml Isoton, ist geleert.

Neue Miniflasche, die leer sein wird, bevor die Schwester das Zimmer verlassen hat.

Endoxan tropft, nach einer Schutzspritze für meine vorbelasteten Nieren. Eine Stunde Giftmüll schaufeln. Und da fällt mir bei einem dezenten Blick auf die Uhr auf, dass es bereits Mittagszeit ist –scheiße!

Ich komme mir ziemlich vernetzt vor, zwei Schläuche baumeln an meinem Hauptschlauch und mit jedem Tropfen wächst in mir die Angst vor einem Krebs. 

19:30

Flaschen und Spülungen kommen und gehen im Laufe des Tages.

Zum Abendessen einen Becher Joghurt, doch bekommen wie bestellt und dennoch ein schlechtes Gefühl, vor allem nach dem Waschen und dem Betrachten müssen meiner Zellulite, einfach nur EKELERREGEND!

Es ist so deprimierend, die Jugend mit einem Schlag vorbei... und das mit 22.

Manchmal frage ich mich, ob das fair ist...

Fette Sau, immer noch aktuell.

Und die Nacht und der erlösende Schlaf wollen nicht kommen.

Sollte ich es einfach versuchen?

Die Öde hat sich mich jetzt schon gekrallt und lullt mich ein in einen passiven Zustand.

Warten auf noch eine Infusion, ist diese es wert zu warten?

Ich werde schlafen.

Nein, diese Therapie noch zu Ende bringen und dann fürs erste kein LKH-Zimmer mehr von innen betrachten. Ich hab die Schnauze voll!!!!


19. November 2002, Dienstagmorgen

Alles ruhig, Krankenhausalltag.

13:00

Zu Mittag einen richtigen Obstteller, Premiere!

Zum Kaiserschmarrn heute abend konnte ich einfach nicht nein sagen, der ist ZU lecker, war ich doch schon verdutzt genug, als die Diätassistentin heute wieder hereingeschneit kam und mich wieder nach meinen Essenswünschen befragte.

Irgendwann stellte sich dann heraus, dass das bei den Krebspatienten mit Chemotherapie so üblich sei, warum auch immer.

Zwar nicht schön, auf eine Schwelle gestellt zu werden, dennoch praktisch und angenehm.

Gerade Untersuchung meiner zuständigen Neurologin hinter mich gebracht, die sich mehr als erfreut zeigte, meinen Zustand so gebessert sehen zu können.

Nun wieder Langeweile.

Mittlerweile hängen 4 Flaschen an meinem Infusionsständer Walter, 1000ml Isoton zum Bewässern, 100ml Zaubertrank gegen Übelkeit, 250ml NaCl zum Spülen und 500ml Endoxan, das nun eigentlich schon leer sein sollte.

Das und das Herausbaumeln der unzähligen Schläuche aus meinem Dekoltè sorgt für verdutzte Gesichter wenn ich mich mal auf dem Flur zum Zwecke der Wasserbeschaffung blicken lasse.

Mein Magen rumort, Obst- oder Endoxankonsum?

14:30

Seit ca. einer Stunde warte ich bereits darauf von diesen Schläuchen befreit zu werden.

Herbst-winterliche Melancholie hat mich erfasst und ich fühle mich schwach und müde, schaffe es nicht meinem Hirn ein passendes Bild für eine Weihnachtskarte zu entlocken.

15:00

Nach der endlichen Befreiung von meiner Kabelage, ein kurzer Spaziergang an der frischen, kühlen Luft, vorbei an den Küchenfenstern; ein herrlicher Vanillezuckerduft, der den wunderbaren Kaiserschmarrn bereits erahnen lässt und die Schmerzen in den Beinen lindert.

Zurück im Zimmer und schon wieder das Bedürfnis raus zu gehen, wie ein Kind.

Nur die Fanta vermag mich zu halten.

Langeweile, mit Obst stillen.

20:00

Die Kaiserschmarrnportion leider halbiert, ich war enttäuscht.

Wieder ein Fläschchen NaCl zum Durchspülen und wieder ewiges Warten aufs Abhängen, bis der Chef der Station es persönlich übernimmt.

 

Und nun... schlafen..


20. November 2002, Mittwochmorgen

8:15

Die Nacht war voller Schreie.

 

Die Nacht war unerträglich heiß, das Bett nass geschwitzt.

Der Kopf voller Griesgram nach dem erzwungenen Aufstehen.

Mein Hals ist am Kratzen, scheiß Tablette, mein Magen schlägt Purzelbäume, ich könnte kotzen.

 

Langeweile.

14:15

Dieses SCHEISS Krankenhaus mit all seinen Kranken, die so facettenreiche Krankheiten mit sich rumschleppen, ich kann sie alle nicht mehr sehen!

Ich will keinen Kranken mehr hören, nicht riechen!

Und diese dämliche Chemotherapieaufklärungsbroschüre können sie sich sonst wo hin... „ Das sollten sie nicht tun, dieses sollten sie meiden, jenes könnte das verursachen, aber genießen sie ihr Leben mit Freude!“

FICK DICH!!!!

Warum erschießt man mich nicht gleich?

Sex kann zu bösen Infektionen führen... ein paar Kapitel weiter, soll ich mein Sexualleben genießen...

AHHHHHH!!!!!!

Warum hab ich das nicht vorher zu lesen bekommen?

Warum wurde ich nicht aufgeklärt?

Warum meine Fragen und Ängste mit prägnanten, oberflächlichen Antworten abgetan?

Ich hätte NIEMALS zugestimmt!

Aber nein, ich Idiot hab mich wieder weich klopfen lassen und mir wieder mal etwas aufs Auge drücken lassen.

Und diese Langeweile ist zum Sterben!

Die Fanta aus dem Automaten überteuert!

Ekelanstalt.

Meine Zukunftsphobie ins Unermäßliche getrieben.

Ich spüre die provozierten Krebsgeschwüre bereits sprießen.

Ich spüre bereits die unzähligen Infektionen, die sich an meinem Körper laben.

Ich sehe meine Haare mit dem nächsten Windstoß vom Kopf fliegen.

Meine Augenbrauen hinterher.

Was soll ich denn tun? Mich lethargisch ins Bett legen, fernab von allem und jedem, nur um mich nicht zu infizieren, ab und an „BETTGYMNASTIK“ betreiben, um nicht eine typische Verstopfung zu erleiden?

„Den Kontakt mit Haustieren meiden!“

Mensch, FICK DICH!!!!!!!!!!!

Ach, und wenn es zu ner Infektion kommt, wohl wieder mal nen kleinen LKH-Urlaub einschieben...

IHR KÖNNT MICH ALLE MAL!!!!!!         

...zu eurem Glück fehlt mir der passende Kraftausdruck um meinen Hass auf euch in Worte zu fassen!!

Ihr, mit eurem beschissenen „Kosten-Nutzenrechnungsscheiß“!

 

Warum lässt man mich nicht einfach in Ruhe?


24. November 2002, Sonntagvormittag -LKH
Der November vorüber, der Winter noch nicht begonnen.
Die Krähen begleiteten mich auf meinem einsamen, stillen Weg auf den leeren Straßen ins Krankenhaus.
Nebelkrähen, Saatkrähen, Aaskrähen säumten meine Strecke und ich fühlte mich ihnen verbunden, in stillschweigender Übereinkunft.
Lautlos ihr Flug, lautlos die Stimmen meiner Seele.
Warme Schmerzen ohne Namen.
Schmerzen, in die Welt hinausgetragen von schwarzen, ruhigen Flügelschlägen.
Das unendliche Warten nimmt seinen Lauf und kriecht dem Sekundenzeiger hinterher.
2 Stunden kein Trost, ein reell greifbares Ende erst recht nicht in Sicht.
Die Krähen fliegen, ich verharre in Bewegungslosigkeit.
Erstarrt, bis der Minutenzeiger mich erlöst nach endlosen Runden.
Prüfende Blicke, Tropfen zählen, Zeit und Menge neue berechnen.
Augen schließen und in mir versinken, bis ich die fließenden Flugbewegungen ihrer Arm- und Handschwingen in meinen Gliedmaßen fühle.
Der plötzliche Tod erscheint nicht mehr so fremd.
1 Stunde vorbei, doch selbst das vermag die Ewigkeit nicht zu halbieren...

 


26. November 2002, Dienstagvormittag
9:15
Zermürbende Aggression, die kein Ventil findet.
Blutabnahme bevor der Giftmüll in meinen Organismus gelangen darf.
Blutabnahme? Und wo wollen sie das Blut hernehmen? Mich wieder malträtieren bis ich vor lauter Zorn am Ende wirklich zuschlage?
Meine Haut wieder von Tagen Kortisonkonsums gezeichnet und rot gefleckt, Ekel erregend, zum ins Gesicht spucken!
Selbsthass, was bleibt mir sonst?
9:30
Nach ersten spendablen Zügen meines Ports, wieder alte Charakterzüge, wie unkooperatives Verhalten, stechen und Tropfen
für Tropfen aus der kleinen Vene pumpen und quetschen mit der Aussicht, dass es ohnehin umsonst war.
Nicht mal mein Zorn bringt das Blut in Wallungen.
9:40
Rumsitzen und nichts anzufangen wissen, noch nicht mal richtig angekommen.
Es ist zum gleich wieder Gehen.
Und ich fühle mich plötzlich wieder nach fetter und fetter werden, und wage es nicht, mich zu betrachten.
10:26
Eine gute halbe Stunde dauerte die Quälerei ohne Wimperzucken, 12!!!! Stiche, eine Ärztin, noch dazu meine ,,Lieblingsärztin“; grausam ihr bei ihrem kaltblütigen Handwerk zuzusehen, wie sie mich förmlich abschlachtet und in mir rumstochert wie ein Kind, das in einem totgefahrenen Tier mit einem Stöckchen herumbohrt, um den Tod zu verstehen.
Ich konnte das Aufflackern von nicht sterben wollendem Ehrgeiz in ihren Augen gefährlich Schimmern sehen.
Nach ihrem 5. Stich fängt sie an zu summen, das beruhigt mich etwas, die Kälte die sie mir signalisiert, nimmt etwas ab.
Stich 9 und 10 werden am Fuß durchgeführt.
11 und 12 arteriell, das mit der ,,Pulsaderaufschneidoption“ überlege ich mir noch mal.
Wenn es noch EINMAL jemand wagen sollte, MIR von seinem VENENLEID zu klagen, schlage ich OHNE VORWARNUNG ZU!!!
Ohnehin das einzige woran ich gerade denken kann, irgendetwas zertrümmern, jemandem weh tun, den Hass aus mir herausbrechen lassen in einer gewaltigen Entladung.
10:40
Kurzes Dampfablassen bei der Visite, der Druck auf den Magen lässt etwas nach, ich habe das Gefühl, mir wird Verständnis entgegengebracht, nicht wie in der Neuro.
Und JA!!! Jetzt im Moment fühle ich mich so klein und schwach und MÖCHTE etwas vom großen Mitleidskuchen abhaben.
Ich möchte in mich zusammensacken, wimmern, schreien.
Aber ich sitze wieder nur hier, spüre, wie die Gefühle an meinen Magennerven fressen und es brodelt und kocht und sich meine Miene immer weiter verfinstert, bis es ganz dunkel wird.
Jetzt aggressive Musik!
11:00
Kurzbesuch meiner Tante und meiner alten Zimmergenossin, die schon wieder hier war.
Wieder etwas Wut ablassen.
Die mitgebrachten Süßigkeiten schnellst-möglich verschwinden lassen, bevor ich nur beim Hinsehen fetter werde, am liebsten würde ich sie verschenken, damit sie weg sind, außer Reichweite und meine Aggression keine Chance auf ein Fressventil bekommt.
Die Limo hat schon viel zu viel Kalorien, die mir in meiner derzeitigen Situation untragbar erscheinen.
Aushungern, alles raus, was noch da ist, wie Winterschlussverkauf.
Kann meine Wut meinen Willen stärken?
Doch wo ist das Ende der Schlange?
11:20
Isoton, 1000ml hängt und ich fühle mich nun etwas erleichtert, keine Bluthetzen mehr in und an meinem Körper.
Obwohl ich sogar glaube, dass die Therapie auch ohne Blutbefund begonnen worden wäre.
Wer weiß.
Und immer noch stelle ich meine eigenen Schmerzen unter den Scheffel des „Für den Arzt ertragbaren Geduldsbereich“.
Wo ist die Schmerzgrenze?
Egal, Walter ist da und „steht“ mir bei.
11:40
Essensdebatten und Selbstbeherrschung stehen unmittelbar bevor.
Zweifel, die mich überrollen.
Selbstbestrafung durch Beschimpfungen; Wörter, hassrot und mit unglaublicher Wucht auf mich selbst bombardiert, um Zweifel im Keim zu ersticken.
12:10
Es war kein Essen bestellt und ein durchdringend, verzweifelt und doch resoluter Blick auf die Frage danach, reichte aus, um die Debatte gar nicht erst aufflackern zu lassen.
Hungern.
Gut.
Nur die Kekse schlummern immer noch wie ein verlockender Schatz im Nachtschrank und ich möchte mich allein für den Gedanken des Schwachwerdens steinigen.
14:50
Die Endoxanlaufzeit vorüber und das Mittel noch nicht mal zur Hälfte drinnen.
Und mein Körper möchte sich was in die verfressene Schnauze stecken.
Ich hadere mit mir, noch ins Kaffee zu gehen und eine Tasse heißen Kakao gegen die Kälte und für die Seele zu gönnen.
Doch die Kalorien, doch das Geld....
16:45
Der Kakao tat ungemein gut.
Und so konnte ich mit Nervennahrung gestärkt einen neuen Bestandteil meiner Zukunft in Empfang nehmen: Otto,
Otto Bock, so sein voller Name, ein süßer, stattlicher und vor allem schnittiger Kerl.
Hübsches moosgrün mit schwarz, einem bequemen Sitzkissen.
Und wieder taten sich viele Fragen vor mir auf und ich fand Antworten.
Warum soll ich mir nicht gestatten den Rollstuhl zu nutzen, wenn ich Schmerzen habe?
Die Schmerzen werden vom Abquälen nur noch schlimmer, die Beschwerden verschlechtern sich durch Überanstrengung.
Selbst wenn die Schmerzen nur einen Tag lang bestehen...
Warum stelle ich mir diese Fragen?
Um irgendeinem Gesellschaftsbild gerecht zu werden?
Ich pfeife auf diese doch so glorreiche Gesellschaft mit all ihren abstrusen Auswüchsen.
Ich WEISS, dass ich es mir erlauben darf.
Ich MUSS mich nicht ständig selbst bis aufs letzte kasteien.
18:15
Durch einfallende Besucher ist der Stuhlbestand dieses Zimmers dezimiert worden, so nutze ich meinen kleinen Otto gleich als Sessel..
Sitzt sich bequem.
Meine Zimmernachbarin grübelt wohl immer noch angestrengt, was ich haben könnte, äußerte ihren unzähligen Besuchen gegenüber die Theorie, ich könnte etwas mit der Haut haben und könnte Bestrahlung bekommen.
Seh' ich SO scheiße aus?
Danke.
WARUM fragt sie mich nicht einfach?
WARUM wird sie dann immer leise, wenn sie über mich redet?
Das Hungern war ein Erfolg, es waren auch kaum Verlockungen vorhanden, das Abendessen wurde auch gleich an der Tür abgeblockt.
Und so gesehen ist es doch praktisch einen eigenen Joghurtlöffel und eine eigene Sitzgelegenheit mitgebracht zu haben..18:30
Ich habe den Tag überstanden.
Morgen noch.
Und Donnerstag, ein Tag der Vorfreude, denn ich gehe wieder nach Hause und NICHTS wird mich aufhalten, und ich kann am Morgen aufstehen und meine Sachen packen und mich abfahrbereit machen und warten, aber auf etwas Schönes!
Nach der Visite, vorausgesetzt es kommt eine, werde ich durch die Gänge wandeln, um diesem Zimmer und dem Alter, der Gebrechlichkeit, der Krankheit kurzfristig zu entfliehen, damit ich atmen kann, und wenn ich sinnlos im Kreis laufe.
Leichte Kopfschmerzen.
Warten auf die letzte Infusion für heute.
Über Kekse im Schrank nachdenken und versuchen, zu verdrängen.


27. November 2002, Dienstagmorgen
7:45
Penetranz und Intoleranz finden hier seinen Meister.
Ich sah mich schon das Radiokabel um ihren verdörrten Hals legen und zudrücken.
Bis nach 22:00 Uhr lief dieses verdammte Ding in voller Lautstärke, das Licht machte sie auch nicht aus, das brannte fast die gesamte Nacht hindurch, den Radio musste ich ausmachen, als ich ein leises Schnarchen vernahm, nach stundenlangem Hin- und Hergewälze, Klopapier in die Ohren Stopfens und Bettdecke über den Kopf Ziehens.
Als Entschuldigung meinte sie heute morgen kindlich-störrisch, dass sie einfach zu faul sei, das Licht auszumachen.
Ich wäre fast zum Affektmörder geworden, so aggressiv die Gefühle in mir.
Nein, dafür kann ich wahrlich kein Verständnis mehr aufbringen.
Ich sah mich schon zusammengekauert am Flur auf nem' Besuchersessel hocken.
Oder im Klo auf dem Fußboden.
Ich fühle mich nur noch angewidert von dieser Person, mir wird richtig schlecht.
JA, mir ekelt vor ihr, vor ihrem tief faltigem Gesicht, ihren dummen Statements, ihrem unsozialen Verhalten, das in solch engem Raum nun mal angebracht wäre.
Ich dachte, die Nacht nicht zu überstehen, so durcheinander, so wütend, so aufgewühlt meine Gefühle, so groß der Hunger nach Nähe, der Hunger meines Körpers, so groß die Panik vor dem fetter werden.
Phase zwei der Chemo, mal sehen wie sich der Schlaf- und Kortisonentzug und die Chemo auf meinen heutigen Tag auswirken.
Der Mond ist wieder aufgegangen; mein Gesicht nicht anzusehen.
Das Frühstück wieder abgeblockt, nur die Semmeln liegen knusprig, duftend in meinem Schrank, doch 24 Stunden Hungern bald geschafft... und was kommt dann?
Eines ist sicher, meine Tasse Kakao werde ich mir allemal gönnen.
Um dem Raum zu entfliehen, vor dieser Person und all ihren Besuchern, die wohl als nächstes meinen Rollstuhl als Sitzgelegenheit nutzen würden, zu entfliehen und der paar Endorphine wegen.
8:45
Der verdammte Radio ist schon wieder an und ich frage mich allmählich ob in Krankenzimmern nicht Kopfhörerpflicht herrschen sollte.
Soll sie sich doch einen Walkman besorgen, ich penetriere sie ja schließlich auch nicht mit meiner Musik.
Die Übelkeit setzt ein, und ich weiß schon nicht mehr wohin mit mir.
Auf den Flur? Mit Sack und Pack?
15:15
Zurück im Zimmer nach langem hin- und herirren.
Zurück in diesem widerlichen Gestank, der mir nun die Magensäure hoch holt.
Zurück im selben Theater, mit Besuchern und dem selben Wehklagen.
Ich ertrage ihre Jämmerlichkeit nicht mehr: Nur SIE ist so arm, nur SIE hat DIE ultimativen Schmerzen, mir wird schlecht und das ist grundsätzlich ein Charakterzug den ich selbst hasse, aber im Moment ertrage ich es, ertrage ich SIE einfach nicht.
Nicht, weil ich in Selbstmitleid zerfließen würde, was immer der Hauptgrund für Kritik dieser Art ist.
Aber sie liegt hier, macht Lärm, ist intolerant, kotzt mich an mit den immer und immer wiederkehrenden Sätzen die sie wie von Tonband immer wieder abspielt.
BLABLABLABLABLA!!!!!!!!!!
Ich denke so bei mir: Die dumme Pute soll mal ihre Augen aufmachen, ihre Ohren öffnen.
Die Welt geht nach der eigenen Haut noch weiter.
Und ich glaube, ihre maßlosen Übertreibungen sind der Hauptgrund, warum ich sie nicht ab kann.
Vielleicht auch deswegen, weil ich mir keine Jämmerlichkeit erlaube.
Es stiiinnnkkkktt, Omaparfum, Krankenhaus, Putzmittel, Körpergeruch, Mundgulli....
Schon schlimm genug wenn sie ständig ihren Blähungen lautstark freien Lauf lässt und ich darauf warte, dass das Raumklima sich noch mehr verschlechtert.
Beim Wechsel vom letzten zum nächsten Lied meines MP3-players, höre ich sie schon wieder jammern.
Und der Geruch ist wahrlich nicht mehr zu ertragen.
16:00
Ich wünschte, es wäre schon morgen.
Viel zu viele Gedanken kreisen wieder durch meinen Kopf.
16:20
Die Zeit verstreicht wieder mal nicht.
Haltloses Umhergehen vor diesem hässlichen Betonklotz, das Licht entschwindet, die Beine fühlen sich nach Auflösen an, ich denke darüber nach, ob ich den Rollstuhl in so einer Situation nutzen würde, es mir erlauben darf, ob das RICHTIG wäre, denke über die Tage, die kommen werden, nach, grüble über gut und böse und verbeiße mich in neuen Selbstzweifeln.
Einen Tag Rollstuhl wegen Schmerzen.
Den andren wieder so rumlaufen.
Die Leute werden das nicht verstehen.
Ach, es ist SCHEISSE!
Und reicht für ein kleines Magengeschwür.
Hunger, nach mehr.
Eine große Packung Faschingskrapfen nur für mich alleine, in mich reinstopfen, ohne schlechtes Gewissen, nicht für den Bauch, nicht für den Körper, nur für meine Seele, deren Hunger noch größer ist als der physische.
Hungern kann etwas schönes sein.
Kann....
18:30
Spätestens jetzt dreh ich durch.
Nun hört sie über Radio in voller Lautstärke die Messe in der Krankenhauskapelle mit.
AHHHH!!!!!!
Warum will der Tag nicht vorüber gehen?
WARUM???????????


28. November 2002, Donnerstagmorgen
8:00
Der Zorn und die Wut haben sich gelegt, nachdem sich herausstellte, dass meine Zimmergenossin wirklich VERDAMMT schlecht hört und der Radio und das Licht von der Abendschwester ausgemacht wurden und ich vor Dankbarkeit ein paar Tränen drückte.
Nur als ich nachts für sie die Schwester herbeiläutete und sie dann meinte, mit Gottes Hilfe würde man alles schaffen, drehte sich mir vor lauter Göttlichkeit der Magen etwas um.
Im Umkreis von mindestens nem' halben Meter um mich rum gibt es keinen Gott.
Oder verstand sie mich in ihrer Dankbarkeit als Bote Gottes?
Mein Verständnis ist auch wieder zurückgekehrt, nach ein paar gewechselten Worten, da ich zumal wirklich kein Schmerzvergleicher bin.
Seit Dienstag 9:00 keine feste Nahrung mehr zu mir genommen.
Ich weiß nicht ob ich stolz auf mich sein soll, ob ich dabei Befriedigung empfinde, die Kontrolle mich in irgendetwas bestätigt.
Dennoch, 65kg, ich hätte nach der Plackerei weniger erwartet und bin enttäuscht, wütend auf meinen Körper, obwohl jener nichts für die Wassereinlagerungen dank des Kortisons und der Chemo kann.
Sind es überhaupt welche? Oder doch wieder nur Fett?
Ich glaube, Essstörung macht erst dann Spaß und gewinnt an Interesse, wenn man alle Zahnräder und Abläufe im Schlaf kennt und man sich selbst bei Dingen beobachten kann, die der Ratio völlig absurd erscheinen.
Ich hätte gefrühstückt, hätte ich wie bestellt mein Joghurt bekommen.
Stattdessen gab es wieder Kaffee und Semmeln, die Ratten werden sich freuen.
Die Flasche mit dem Isoton gluckert bereits in mich hinein, dass ich frühest möglich fertig bin mit meinen Pflichten hier und endlich gehen kann.
Die lange Zeit vor dem Einschlafen habe ich genutzt, um über mein Belohnungsessen nachzudenken, andere Frage ist nur, ob mein Magen das auch verträgt.
Zur Zeit scheint er etwas „sauer“ zu sein.
12:15
Alle Fragen geklärt, alle Termine festgemacht, meine Zimmernachbarin beim Essen und Gasaustausch, ich habe mich sauber geschrubbt und mich frisch in den Sari gewickelt, ein Krankenhaushandtuch mit Henna eingesaut, fragend, ob heute Abend doch Backofenpommes oder doch Reis oder gar nichts weil mir übel sein könnte.
Ein kleines Fläschchen Uromitexan steht mir noch bevor, um meine Nieren zu beruhigen.
Die letzte Endoxan fühlte sich schon mehr als unangenehm an, begleitet von Herzrasen, leichter Atemnot, Brennen der Stirnhöhlen, leichten Kopfschmerzen, Zittern, Übelkeit und dem Gefühl, auseinander zu brechen.
Und wieder Langeweile und das Ankämpfen gegen die Übelkeit aufgrund der esstechnischen Klimaveränderung in Zimmer 7.
12:30
Meine erste und letzte Fanta, eine Wohltat, drohte doch schon bei der Rückkehr auf die Station die unsichtbare Stinkewand mich zu erschlagen, so kann ich meine Magennerven wenigstens etwas ablenken.
Warten.
2 ½ Stunden noch.
Meine Zimmernachbarin gibt wieder Ekel erregende Geräusche von sich, es beutelt mich innerlich. Und sie nervt mich schon wieder etwas, weil sie immer und immer wieder mitteilt, wie sehr ihr Rücken schmerzt.
Eine Schwester durfte sich das heute schon mindestens 4mal anhören; ich glaube, mittlerweile weiß sie es.
Sie ist so erpicht darauf, dass es JEDER weiß und es jedem mehrmals zu sagen, damit man es ja nicht vergisst.
Auffrischen, wie nett!
Ach was, Fanta trinken und gar nicht erst darüber nachdenken.
Ans schöne Abendessen denken, Pommes oder nicht Pommes, Hauptsache viel knackiges Babygemüse....hach!
Und erneut versucht meine Seele ihre Bestellung aufzugeben: „Eine 10er Packung Krapfen BITTEEE!!!!“
Sie starb gestern schon, als ein Werbespot für Weihnachtsschokolade mit Spekulatiusstückchen lief.
Der Körper, rüde wie immer, meinte nur „WÜRG!“ dazu und schleppte die Seele mit zurück ins Katastrophenzimmer.
Weihnachten...
Ich bin nicht in Weihnachtsstimmung, das Fest geht mir jedes Jahr ein Stückchen mehr am A... vorbei.
Dieses Jahr besonders schlimm, da war der Feieroktober schon von A bis Z scheiße gelaufen, keine guten Voraussetzungen für Weihnachten, dessen Sinn ich immer weniger erkennen kann.
Gut, auf die Schokolade freue ich mich riesig.
Und auch auf andere Naschereien (ich denke nur noch ans Essen), aber es ist doch auch die Zeit, in der die Angst vor dem fetter werden am ausgeprägtesten ist.
Wieder Weihnachten feiern wie 2000 und 2001?
Mich durch die Festtage fressen und kotzen?
Schöne Aussichten.
Nächste Weihnachten, wenn wir dann schon in unsrem Haus wohnen (und den Baum pfänden müssen weil uns ein Schuldenberg erschlägt), wird anders.
Ich kann selbst bestimmen wie viele Leckereien im Haus, bzw. in Reichweite sind.
Und ich kann bestimmen wie viele kcal diese haben werden.
Ich werde Kontrolle haben und mit dieser sicher auch genießen lernen können.
13:10
STÖHN!
Zwei Stunden noch und mir wird immer übler.
Das Blähungsgetreibe ist ja schon nicht mehr mit an zu hören...
13:40
ÄCHZ!
Die Übelkeit nimmt allmählich brechfördernde Maße an.
Im Flur riecht es nach Bauer, frisch aus dem Saustall, 24 Stunden in einem 5m² großen Raum bei 40°.
Vielleicht doch keine Pommes...
14:00
Zwischenbilanz.
Kaum noch Kraft in den Fingern um zu tippen.

Und es ist mir eine Freude ihren immer neu eintrudelnden Besuch zu schockieren, wenn sie wieder Mal über mich tuscheln, wie ich da so in meinem Rollstuhl am Tisch sitze und dann unerwarteterweise mich aus diesem erhebe und locker flockig bei der Tür hinaus spaziere -Was für ein Spaß!

Nachtrag:

Das Pflaster, mit dem die Nadel drei Tage lang auf meinen Körper geheftet war, ließ sich vor meiner Entlassung nicht mehr abmachen, da es sich mehr oder minder aufgelöst hatte und ich es erst nach stundenlangem Zupfen und Abrubbeln mit Wundbenzin abbekam.


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